Die von Merings

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"Ich bin eine geborene von Mering", melde ich mich am Telefon, wenn ich mir unbekannte Menschen mit dem Namen von Mering anrufe. Nicht immer sind sie auch geborene von Merings, wenn ich Glück habe, sind sie angeheiratete von Merings, Frauen, die mit Vergnügen den Namen ihres Mannes tragen, Frauen, die mit spitzbübigem Humor sagen: "Na ja, dafür heißen wir nicht Müller!"

Ich bin eine geborene von Mering. Aus eigener Erfahrung weiß ich von den Merings wenig. Meinen Vater habe ich kaum gekannt, da er starb, bevor ich sechs Jahre alt war. Ich bin in der mütterlichen Familie groß geworden. Die einzige von Mering, die ich kannte, war meine Tante Clara. Sie allerdings war ein starker Eindruck. Nach ihr mache ich mir ein Bild von den Merings.

Aber auch meine Tante Clara war überwiegend unter dem Einfluss der mütterlichen Familie Eberhardt groß geworden. Umgeben von den Schwestern ihrer Mutter lebte sie noch als 46jährige, als ich sie kennenlernte. "Meringsch" fand ich an ihr, daß sie mir sagte, sie wundere sich, daß ich sie anscheinend gern hätte - sie selbst hätte ihre Tanten nie leiden können. Wenn meine Mutter auf meine Art, sie abzuweisen, wütend war, nannte sie diese Art das "Meringsche" an mir. Und warnte mich davor, weil es ein Hindernis sei, sich gut zu verheiraten. Tante Clara, die echte Mering, heiratete nie!

Natürlich war mein Vater kein echter Mering in meiner Mutter Augen! Er hatte all die guten Eigenschaften seiner sanften Mutter. Ein echter Mering hingegen war mein Großvater Carl und von ihm hatte meine Tante Clara ihre schwierigen Eigenschaften.

Sind meine Brüder echte Merings? Sicher hat meine Mutter alles getan, was in ihrer Macht stand, um uns unserm Vater, den sie so liebte, ähnlich werden zu lassen. Aber gerade darum sollten wir keine echten Merings werden.

Wir sind von Merings, weil wir aus einer patriarchalischen Gesellschaft stammen, wo der Familienname des Mannes der Familienname der Kinder ist. Unser Vater war der Sohn seines Vaters, der wieder der Sohn des seinen und dieser wieder ein Sohn eines, der von Mering hieß. Das ist der "Mannesstamm", der den Stammbäumen Halt gibt. Vererbung findet statt, aber der Name hängt nicht mit den vererbten Eigenschaften zusammen. Der Enkel oder Urenkel, der Lippold heißt, kann mehr Meringsche Eigenschaften haben, als einer, der von Mering heißt. Wobei natürlich die Frage grundsätzlich ungeklärt ist, ob es außer Körpermerkmalen überhaupt vererbbare Eigenschaften gibt.

Bleibt die Familientradition. Meine Mutter hat uns immer wieder auch die väterliche Familie sehen lassen. Als wir klein waren, fuhr sie mit uns hin, als wir größer wurden, schenkte sie uns das Fahrgeld. Sie hielt Familie für wichtig, und sie wollte uns nicht der Mutter ihres Mannes fremd werden lassen. Ich hatte dabei nie den Eindruck, daß sie auf Nutzen für uns aus war. Nein, es ging ums Freude machen. Wir Kinder waren eine Freude für meine Mutter, und die gönnte sie auch andern. Es ist merkwürdig, wie stark ich diesen Gedanken spüre, wenn ich an meine Reisen zu meiner Großmutter väterlicherseits denke. Ich kam als Freudenbringer.

Meine Großmutter Clara war auch nur eine angeheiratete von Mering. Ich stand in ihr einer geborenen Eberhardt gegenüber. Was ich inzwischen über die Eberhardts und die Liebschers herausgefunden habe, verkörperte sie aber nur schwach. Über sie muß ich noch viel nachdenken. Doch etwas, was mir Meringsch erscheint, hatte auch sie: sie war abweisend. Nicht auf die schroffe, leicht kränkende Art meiner Tante Clara, sondern auf leidende Weise: "Laß nur, Kind, geh nur in den Garten!" - "Ach nein, mit dem Menschen haben wir nichts zu tun." Beides kannte ich von meiner mütterlichen Familie nicht. Wir hatten mit allen zu tun und schickten niemanden fort. Als Heranwachsende empfand ich diese Abweisung teils als Schwäche, teils als Merkmal des Adels.

Nun lese ich alles, was ich finden kann, über die von Merings. Und ich versuche die heute noch lebenden kennenzulernen. Viele sind es nicht. Und alles ganz gewöhnliche Leute. Der Niedergang, den der Andernacher Archivar in den Fünfziger Jahren beklagte, ist feststellbar, wenn man die Ämter der Merings im 17. und 18. Jahrhundert zugrundelegt. Man könnte sagen, die heutigen Merings sind Vertreter ihrer jeweiligen Mutterstämme. Wir z. B. sind vom Vater her echte Liebschers. Von Merings gibt es eigentlich nur noch in den USA. In Deutschland war unser Großvater Carl der letzte. Oder meine unverheiratet und kinderlos gestorbene stolze, einsame, phantasievolle und sonderbare Tante Clara, die der eigentliche Motor meiner Familiengeschichte ist.

Aber wie kann man das wissen? Die bedeutendsten Vertreter der Meringschen Familie waren Priester, also ohne gesetzliche Nachkommen. In ihren Nichten und Neffen setzte sich die Familie fort. Es gab bei den Merings nur selten dauerhafte kinderreiche Ehen, das ist im Vergleich zu den Liebschers auffallend. Es gibt heute mehrere Merings, die unverheiratet bleiben werden. Es gab und gibt zerstrittene Geschwister. Es gibt spannende Biographien, mit Brüchen und Sprüngen. Es gibt eine Neigung zur Exzentrik, wozu man die Berufung zum Priester oder zur Nonne, die Wahl des Soldatenstandes oder den Anspruch, ein Künstler zu sein, zählen könnte ebenso wie die Leidenschaft, die das Leben ruiniert. Der echte Mering weigert sich, in seiner Gruppe aufzugehen. Was alle tun, kann für ihn kein Maßstab sein. Dadurch macht er sich oft unglücklich.

Natürlich prägt ein alter Name. Alle von Merings und auch die Merings ohne von, die ich kennenlernte, wußten etwas von den Kölner Merings, den Adligen, den Patriziern, dem gedruckten Stammbaum. Und genierten sich etwas, ihren Großvater anzugeben, der nichts Besonderes war, außer daß er sich in mehreren Berufen vergeblich versucht hatte und ihm zwei Ehen scheiterten. Ohne Geschichte ist niemand. "Na ja, dafür heißen wir nicht Müller!"