Vom Tod eines Hündgens

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Zuerst veröffentlicht in: ANDERNACHER ANNALEN 6, 2005/2006, hrsg. vom Historischen Verein Andernach e.V., Redaktion: Klaus Schäfer, S. 75ff

Eine Episode aus dem Leben meines Vorfahren Matthias Rübsam in Andernach (9.7.1662 – 26.8.1738)

Akten sind oft erstaunlich. Wozu hat man solch einen Vorgang wie die Nr. 1437 im Best. 2 "Kurköln" des Landeshauptarchivs Koblenz aufgehoben? Wer kann geglaubt haben, dass sich jemals noch jemand für den Tod des Hündgens im Zollhof von Andernach interessieren werde? Auseinandersetzungen zwischen Kurköln und Kurtrier hat es natürlich immer wieder gegeben bis zum Ende des Alten Reichs. Ist also die Akte: "Die Abstellung des Zolls und Niederlegung des Hauses an der Nettebrücke 1731 – 1759 betreffend" deswegen aufgehoben worden, weil sie als Präzedenzfall für andere Streitigkeiten dienen konnte? Oder schätzten Regionalhistoriker die Akte als ein Kabinettstück des Rokoko?

Für mich ist die Akte Best. 2, Nr. 1437 Familiengeschichte. Mitten in den Ereignissen befindet sich mein Vorfahr Matthias Rübsam, geboren am 9. Juli 1662 in Ochtendung, gestorben am 26. August 1738 in Andernach.

Deshalb also erzähle ich die Geschichte vom Tod des Hündgens. Die Szenen, die ich schildere, sind in meinem Kopf entstanden, bei nachdenklicher Lektüre der Nr. 1437 des Bestands 2, ergänzt durch Kirchenbuchkenntnisse, Andernacher Rats-, Schöffengerichts- und Landtagsprotokolle. Aktenzitate sollen meine Darstellung belegen. In den Exkursen fasse ich Akten zusammen, ergänze sie mit Erklärungen aus dazu passender Literatur. Der Leser ist aufgefordert, sich auf die Stadt Andernach in den Dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts einzulassen.

Erste Szene: Ein Streit im Zollhof von Andernach

Im Jahr 1731 unserer Zeitrechnung, an einem Tag im Frühsommer, sitzt mein Vorfahr Matthias Rübsam in seinem Kontor im Zollhof von Andernach. Er neckt mit der linken Hand seinen Liebling, einen kleinen Rassehund, während er mit der rechten den Stoß von Lastpapieren umwendet, deren Beträge er mit Namen des Kunden und Warenmenge dem jungen Zollschreiber in das Einnahmenbuch diktiert. Matthias ist ein lebhafter Mann von neunundsechzig Jahren. Vor wenigen Monaten hat er zum vierten Mal geheiratet. An seiner Haltung kann man erkennen, dass er gewohnt ist, Befehle zu erteilen, aber auch kollegial Rat zu pflegen. Seine Kleidung ist distinguiert. Er stammt aus einer alten Schulzenfamilie vom Bischofshof in Ochtendung, hat in Köln studiert, ist Schöffe am Hohen Rittergericht, des öfteren Bürgermeister von Andernach gewesen und seit 1726 Admodiator oder Pächter des Kurkölnischen Landzolls. Das "Hündgen" ist seine Schwäche. Es hat ihn acht Pistolen gekostet, etwa das Jahresgehalt eines Zollknechts. Er hat das Tierchen ständig um sich.

Von seinen Zetteln hebt er den Blick beim wohlbekannten Geräusch rollender Räder auf dem Kopfsteinpflaster des Zollhofs. Er sieht einen mit Säcken hochbeladenen Wagen, mit einem Pferd bespannt, durch das Tor einbiegen. Neben dem Wagen geht ein rüstiger Mann mit Knotenstock. Seinem Herrn auf dem Fuße folgt ein starker Hund.

Dieses Bild wird Matthias lange verfolgen: Das Pferd, der Mann, der starke Hund. Das Hündgen merkt, dass Matthias abgelenkt ist, und zwickt ihn spielerisch in den Finger. Er wuschelt ihm mit der Hand durchs Fell. Gleich darauf tritt der fremde Fuhrmann ins Kontor.

Er stellt sich vor als Hubertus Necker, Wollenweber aus Koblenz, unterwegs mit einem einspännigen Wagen voll Wolle. Die Vließe habe er in Euskirchen beim Schäfer persönlich ausgesucht für seine Weberei. Leider sei ihm ein Unglück passiert – in einem Hohlweg, bei strömendem Regen, sei ihm der Wagen umgeschlagen. Die Stricke, die die Säcke hielten, hätten sich gelöst, die Ware habe zum Teil im Schmutz gelegen. Nachdem er mit großer Mühe die Karre aufgerichtet hatte, war es schwierig, die verrutschte Ware wieder zu verstauen. Erst im nächsten Gasthof habe er gemerkt, dass ein Sack voll Wolle fehle.

Der Wirt in Bendorf und sein Bruder hätten sich zur Hilfe erboten, sie seien zu der Unfallstelle gefahren, hätten den Sack gefunden und einem andern Fuhrmann mitgegeben. Zwar habe er, Hubertus Necker, den Sack eigentlich wieder auf seinen Wagen aufladen wollen, aber da der andere Fuhrmann ohnehin mit leerem Wagen den gleichen Weg hatte, habe er zu eigener Hilfe und zur Bequemlichkeit des andern den Sack auf dessen Wagen gelassen. Zu verzollen sei also ein einspänniger Wagen mit Wolle.

Aktenzitat: " … wie daß zu meiner Wollen Weber profession im Neoburgischen zu Eyßkirchen einige Wolle gekauffet, dieselbe in Säcke eingefüllet und eine Karr, mit Einem Pferdt darmit beladen, unterwegs aber das Unglück gehabt, daß die Karr umbgeschlagen, undt bey deren auffhebung die auffgeladen geweßenen WollSäcke einigermaßen erlößet, daß ein Wollsack herunter gefallen, undt gleichfalls verlohren gegangen, dießen aber Von einem Wirth samb dessen Brüder auß Bendorff suchen laßen, da alsdan den gefundenen Sack wiederumb auff die Karr laden wollen, Ein fuhrmann auch nach Coblentz fahrend, denselben mitzunehmen Versprochen, wie alß dan nahe Andernach gekommen, undt dem dasigen Zoll admodiatoren scheffen Ruebsam den Zoll entrichtet auch dabey bedeutet, daß wegen gehabten unglücks theils aus Hulff Theils zur Bequemlichkeit des ohne deme nach Coblentz fahrenden fuhrmanns den einen Sack alleinig auff der lehren fuhr befinde, sonsten aber nur eine Karr mit einem Pferd beladen hätte. Derselbe mir den sub No. 1. beyliegenden Zettel oder Lastpapirung gegeben …"

Erste Szene, Fortsetzung: Matthias Rübsam schreibt das Lastpapier für eine einspännige Karre voll Wolle aus und kassiert das Geld. Die Geschichte vom Unfall interessiert ihn nicht. Sein Liebling drängt sich an seine Knie. Necker verlässt das Kontor. Und dann das Unglück: Der starke Hund des Wollenwebers beißt das teure Hündgen meines Vorfahren tot!

Wie konnte das passieren? Hubertus Necker läßt es in seiner Anklage gegen Matthias Rübsam so schildern:

Aktenzitate: " … da ich eben zu dessen hauß hinauß undt forth gehen wollen seyndt gedachten Admodiatores 3 Hundt über meinen hundt hingefallen, woselbsten sich dan zugetragen dass von diesen 3en der Kleinste Hundt für Todt darnieder gelegen; worauff mehrberührter Admodiator mich mit den höchsten Errürischen scheldtwordten nicht nur überfallen, sondern auch beyde karren mit den Pferden arrestiren lassen, unter einem Chicanösen prätext, ob hätte ich den Zoll verfahren undt den Zoll damit betriegen wollen, auch ohnangesehen gnugsam Caution daselbst stellen wollen, weder meine Karren, worauf den einen Sack wiederumb auffladen lassen, weder den lehr gekommenen fuhr loß zu bringen vermöget, biß endlich den folgenden Tag mit zurückhaltung aller meiner Wollsäcke die Pferde undt fuhren passiret worden, Undt ohnerachtet durch einen von hier abgeschickten notarium undt zwyer zeugen besagten Notariats Instrument sub No. 2 gegen die gröbste mir angethane injurien, schädliche arrestirung und Unkosten protestiren lassen, dennoch die mir ungerechter arrestirte Wolle nicht Verabfolget werden wollen, sondern annoch daselbst in arrest liegen thut."

Matthias Rübsam lässt in seiner Verteidigung durch seinen Advokaten verlauten: "das factum kürtzlich erzehlen, was maßen dieser Coblentzer Bürger zu Verzollung einer Karrigen mit woll sich bey mir angemeldt, bey sich habend einen starcken Hundt, welcher Hund aber nach einigen Von seinem Herren mit meinen leuthen importun gehaltener wordtwechselung, mein Hündgen, so ich für 8 pistohlen nicht verlaßen hette, todt gebißsen, dahr er doch solches leichter dingen Verhinderen können, und annebens zwey Karren zur gehöriger Verzollung ahngeben sollen, wie dann auch die 2te zollbahre Karrig zur Stelle gebracht und derenthwegen weilen er eine Karrig in der Verzollung Verschwiegen und annebens wegen meines todtgebissenen Hunds mir kein satisfaction, auch seinen Hund nicht uns erschießen laßen wollen, die woll in arrest so lang gelegt worden biß er sich dem Herkommen und Billigkeit gemäß abfinden thäte."

Erste Szene, Schluss: Vor unseren Augen, den Augen der Nachfahren, entsteht das Bild eines lautstarken Streits im Zollhof: die Zollknechte haben die zweite Fuhre mit dem einzelnen Wollsack entdeckt, die auf der Straße auf den Wollenweber gewartet hat. Sie glauben, dass Hubertus Necker "den Zoll verfahren" wollte. Den Zollzettel ihres Vorgesetzten wollen sie für die zweite Fuhre nicht gelten lassen, sie schicken den Wollenweber zurück ins Kontor. Der wehrt sich, schlägt mit der flachen Hand auf das Lastpapier, das teuer genug war, schwört, dass die Menge der Ware nur einen Karren ausmache, schimpft auf den Zoll allgemein und auf den kurkölnischen in Andernach im Besonderen. Sein großer Hund sträubt das Nackenhaar, weil sein Herr erregt ist, er knurrt drohend, die beiden Hofhunde an der Seite der Zollangestellten fangen an zu bellen, es entsteht eine Rauferei unter den Hunden, Matthias öffnet die Tür vom Kontor, um zu sehen, was es gibt – da entwischt sein Hündgen ins Freie, und nach Art kleiner verwöhnter Hunde mischt es sich keifend ins Getümmel…. Es ist tot, ehe einer der Männer eingreift.

Matthias Rübsam sieht rot. Sicher hat er in seinem langen Leben vielerlei Verlust erlebt. Alle seine Söhne und eine Tochter verlor er als Kleinkinder, erst vor zwei Jahren begrub er die jüngste seiner erwachsenen Töchter in derselben Gruft bei den Franziskanern, in der schon drei Ehefrauen von ihm ruhen. Er hat als junger Mann die Verwüstungen des Pfälzischen Erbfolgekriegs erlebt, als Schöffe, als Ratsherr hat er viel Streit aushalten müssen. Und Zollkunden sind doch fast immer unwillig! Aber der Anblick des toten Hündgens streift alle Erfahrung und Mäßigung von ihm ab. Er ist außer sich. Er beschimpft den Wollenweber mit ehrenrührigen Ausdrücken, er lässt beide Wagen samt Pferden und Wolle von seinen Leuten konfiszieren, in die Zollgebäude einschließen, und weist den Handwerksmeister, der einer sehr geachteten Zunft angehört, der das Bürgerrecht der Stadt Koblenz genießt, wie einen Dieb und Betrüger vom Hof.

Exkurs: Der Andernacher Landzoll

So nah Andernach und Koblenz auch beieinander liegen – sie gehören 1731 zwei verschiedenen Staaten an. Zwar schreiben in beiden Städten die Menschen: "Hochwürdigster Ertzbischoff und Churfürst gnädigster Herr Herr!" wenn sie sich an ihre Regierung wenden. Aber die Andernacher meinen damit Clemens August von Wittelsbach, Erzbischof und Kurfürst von Köln, und die Koblenzer Franz George von Schönborn, Erzbischof und Kurfürst von Trier. Gelesen und beantwortet werden die Briefe selten von den Fürstbischöfen selbst, sondern von den "zur Regierung verordneten Cantzler, Geheimb- und Hofräthen". Die kurkölnische Regierung hat ihren Sitz in Bonn, die kurtrierische residiert auf dem Ehrenbreitstein bei Koblenz. Andernach liegt sozusagen im Angelpunkt beider Territorien.

Kölnisch ist der Landzoll in Andernach seit dem Mittelalter, genau seit dem Jahr 1167. Er wurde seit Menschengedenken verpachtet. Am 24. April 1726 hat mein Vorfahr Matthias Rübsam den Pachtvertrag erhalten, nachdem ihn viele Jahrzehnte, seit dem Dreißigjährigen Krieg schon, stets ein Mitglied der Familie Nuppeney inne gehabt hat. Im gleichen Vertrag übernimmt Rübsam das domkapitularische Gut zur Nette - einen großen landwirtschaftlichen Betrieb mit Ölmühle und Jägerhaus. Und obendrein bekommt er die Verantwortung für die Einnahme des so genannten Brückengeldes an der Nettebrücke. Verpflichtet hat er sich damit zu 700 Reichstalern jährlich, zahlbar in vierteljährlichen Raten an die kurfürstliche Landrentnerei.

Die Aufgaben aus diesem umfassenden Pachtvertrag kann Matthias Rübsam natürlich nicht alle persönlich wahrnehmen. Er muss weiterverpachten oder Löhne zahlen. Aber im Zollhof zu Andernach arbeitet er selbst. Die Zollzettel des Herrn Rübsam werden in der Akte Nr. 1437 verschiedentlich erwähnt. Die Tarifrolle für den Landzoll befindet sich nicht beim Pachtvertrag. Deswegen kann ich nicht sagen, wie viel Hubertus Necker für einen einspännigen Wagen mit Wolle hat zahlen müssen. Die Versuchung für den Zöllner, die Ware fest zu halten, bis der Kunde die geforderte Gebühr zahlte, war hoch. Dagegen hatten die beiden Kurstaaten einen "Vertrag und Vereinigung" abgeschlossen zur Erhaltung von "freundnachbarlicher Verständnus und Harmonie". Darin war ausgemacht, dass bei Meinungsverschiedenheiten über die Höhe der Abgabe der Zollpflichtige eine Kaution stellen solle bis zur rechtlichen Klärung durch die zuständigen Stadträte oder Gerichte. Die Ware aber sollte auf jeden Fall frei gelassen werden, um Handel und Wandel nicht zu behindern. Gegen diese Vereinbarung hat mein Vorfahr Rübsam gröblich verstoßen.

Zweite Szene: In der Ratsstube zu Andernach

Sie kennen sich alle gut, die sich da am 26. Juli 1731 um den großen Tisch im alten Rathaus von Andernach versammeln. Der älteste ist mein Vorfahr Matthias Rübsam, der – um zu zeigen, dass das "a" lang ist – oft Rübsaem geschrieben wird, gebürtig aus Ochtendung, Schöffe des Hohen Rittergerichts seit 1698, Ratsherr seit 1700, elfmal bisher einer der beiden Bürgermeister gewesen, deswegen auch immer als Bürgermeister tituliert, und Pächter des kölnischen Landzolls. Fast gleichaltrig dürfte Richard Doetsch sein, gebürtig aus Mayen, Ratsherr seit 1696, zum Schöffen gewählt 1701, von 1707 bis 1716 als Stadtschreiber tätig, ist er 1716 zum Bürgermeister gewählt worden. Etwas jünger ist Michael Wolff, Schöffe seit 1706, seit 1716 auch Ratsherr, 1724 war er Bürgermeister. Es folgen die jüngeren: Dr. Ferdinand Welther, Schöffe seit 1717, Ratsherr seit 1723, er ist außerdem Schreiber beim kölnischen Rheinzoll. 1730 ist er zum ersten Mal Bürgermeister gewesen. Dann kommt Caspar Paffrath, Schöffe seit 1719, Amtsverwalter geworden 1724, Ratsherr seit 1725, 1728 bekleidete er das Bürgermeisteramt. Er hat 1717 die älteste Tochter von Matthias Rübsam, Maria Elisabeth, geheiratet. Der nächste in der Reihe, Wendelin Sattler, wahrscheinlich promoviert, ist von Beruf Gerichtsschreiber. Ratsherr ist er seit 1716, Schöffe seit 1717. Bürgermeister ist er 1723 gewesen. Theodor Kayserswerth ist erst seit 1727 Ratsherr, trotzdem ist er schon 1729 Bürgermeister geworden. Heinrich Ruitsch ist Organist und octovir oder Achter seit 1723, also einer der acht Bürger, die den Rat kontrollieren sollen. 1727 ist er über dies Amt in den Rat gekommen. Johann Christian Kuelgens ist bereits seit 1716 Stadtschreiber, seit Richard Doetsch den Posten aufgab. Seit 1729 gehört er ebenfalls dem Rat an. Diese letzten drei stellen sozusagen die "Jugend" dar und wegen ihrer Herkunft die "Gemeinde". Alle drei haben aber sicher auch schon genug Erfahrung mit den Eigenheiten der alten Stadträte! Der einzige, der vielleicht fremd ist und deswegen bei Hans Hunder auch nicht vorkommt, der aber 1731 und 1732 regelmäßig als Ratsherr an den Sitzungen teilnimmt, heißt Jakob Düsseldorff. Vielleicht ist er der erste der später in Andernach sehr bekannten Familie.

Da sitzen also diese zehn Männer beisammen, stell ich mir vor, und schweigen, lange. Eben hat der Stadtschreiber Kuelgens ihnen den Brief des Koblenzer Magistrats vorgelesen, in dem die Räte dort sich über die unerhörte Behandlung ihres Bürgers und Zunftangehörigen Hubertus Necker durch den Schöffen und Landzöllner Matthias Rübsam beklagen. Es ist ein für alle äußerst unbehagliches Schweigen. Innerlich mögen viele von ihnen das teure Hündgen verfluchen, das sich ausgerechnet von dem starken Hund des Koblenzers tot beißen ließ. 10 Pistolen soll es wert gewesen sein. Wahnsinn! Aber es war eben ganz offenbar – und das erkennen ja auch die Koblenzer deutlich – der erklärte Liebling seines Herrn. Und der alte Rübsam ist ein jähzorniger Mann. Was soll man jetzt machen? Den eignen Ratsherrn, Mitschöffen, geehrten Bürgermeister im Stich lassen? Unmöglich. Wer von den Ratsherren ihn nicht ehrt, hat eventuell Grund, ihn zu fürchten.

So schweigen sie. Und es ist schon eine Erleichterung, als endlich einer sagt: "Das geht uns gar nichts an!" Das ist zwar keine Lösung, aber erst einmal eine Erleichterung. Und dann gucken sie Matthias Rübsam an. Und der sagt – ob wütend, ob niedergeschlagen, heftig oder leise: "Ich will ja nur, dass dieser Misthund erschossen wird." Und in diesem Sinne verfasst Johann Christian Kuelgens den Brief an den Rat in Koblenz:

Aktenzitat: "Hoch undt wohl Edele, auch hoch undt wohl gelehrte hochgeEhrsteste undt hochgeEhrte Herren

Ew. Hoch- undt wohl Edl. Beliebiges schreiben Vom 21. dieses ist in Senatu Vorkommen undt haben wir darauß, undt davon ahnlagen des mehreren Verleßen, waß sich für Händel zwischen hiesigen Landt Zolls admodiatoren H. Scheffen Rübsaem undt dasigem bürgeren undt Wüllenwebern Hubert Necken wegen Todt gebissenen Hundts, undt arrestirter wolle zugetragen haben;

Nun wollen wir gern all dasjenige beysteuern was zu gütlicher hinlegung dieser Seits undt beständiger unterhaltung guter freundt undt nachbahrschaft zureichig sein mag, weil aber die Händel uns nicht angehen, undt dan H. Bbmr Rübsamen mehr nichts, als dieses verlangen, daß des Huberti Neckens Hundt, so dessen Hundtlein todt gebissen, loco damni erschossen werde, so haben es Ew. Hoch undt wohl Edlen unsere hoch geehrtest und hochgeEhrten Herren andertheil unverhalten undt dabey unsere auffrichtige begierde zu conservierung beständiger guter freundt- undt nachbahrschaft contestiren sothan harrende Ew. Hoch und wohl Edl.

Unserer hochgeEhrstesten undt hochgeEhrtn Herren dienstfertig und bereitwillige Ritterscheffen, Bbmstr. Und Rath der Ertzstifft Cöllnischer haub- und directorial Statt Andernach

Andernach, den 26. Juli 1731"

Zweite Szene, Schluss: Damit ist Hubertus Necker natürlich nicht zufrieden. Wo bleibt die arrestierte Wolle? Und was ist mit den Beleidigungen? Der Koblenzer Rat schreibt also am 8. August erneut nach Andernach, dass der Wollenweber ja bereit sei, seinen Hund erschießen zu lassen, wenn Herr Rübsam sich angemessen entschuldige und ihm die Wolle aushändige. Darauf mag der Rat von Andernach nun überhaupt nicht mehr antworten. Er fühlt sich endgültig nicht zuständig. Und wählt unerachtet der "Händel" um den Tod des kostbaren Hündgens Matthias Rübsam, neben dem General von Nothafft, zum Bürgermeister für das Jahr 1732.

Exkurs: Das Wirtshaus an der Nettenbrücke

Die Landstraße von Andernach nach Koblenz führt über den Fluß Nette, der wenig oberhalb Andernachs in den Rhein mündet. Im Jahr 1712 hat das Domkapitel von Köln die durch Hochwasser und Eisfahrten zerstörte steinerne Brücke wieder aufbauen lassen. Und seit 1713 kassiert Kurköln an dieser Stelle zusätzlich zum Landzoll ein Brückengeld. Dazu hat es einem gewissen Michael Assenmacher erlaubt, auf eigene Kosten ein Haus an der offenen Landstraße nahe der Brücke zu erbauen. Dem damaligen Amtsverwalter und Landzöllner von Andernach, Servatius Nuppeney, wurde befohlen, eine feste Büchse mit Schloss machen zu lassen, zu dem Schloss zwei Schlüssel. Den einen davon sollte er selbst verwahren, den andern nach Köln an die Hofkammer senden. In diese Büchse sollte Assenmacher das Brückengeld einwerfen, wobei ihm der achte Pfennig als Gehalt zugestanden war. Als Tarife wurden festgesetzt:

Aktenzitat: "von jedem über selbige Brücke passierenden ochßen, pferd, Kuhe und Eselen 2 pettmgr., vom Schwein 1 pettmgr., vom Kalb, schaaff und sonstigem kleinen Viehe 4 heller, von jedem von der ErtzStifft.r HoffCammer nicht verglaideten juden aber 4 pettmgr."

Exkurs, Fortsetzung: Die Abkürzung "pettmgr" steht für moselfränkisch "Petermänger", hochdeutsch "Petermännchen". Das ist eine in Trier geprägte Pfennigmünze im Wert von 12 Hellern, benannt nach dem Bild des Apostels Petrus auf der Rückseite. Fußgänger gingen demnach frei über die Brücke, aber ein Reiter musste zahlen. Die Ware auf den Wagen wurde nicht gewogen, nur die Zugtiere wurden gezählt. Ein Hirt oder Viehhändler zahlte für die mitgeführte Herde. Es handelte sich nicht um Zoll, sondern um eine Benutzungsgebühr. Juden, die nicht einen Geleitschein der kurfürstlichen Hofkammer besaßen, also "nicht verglaidet" waren, mussten vier Petermänger entrichten. Sie waren niemandes "Amtseingesessene" und deswegen schutzlos.

Zu Anfang mögen Reisende und Handeltreibende die neue Brücke begrüßt haben. Vielleicht waren es Jahre, wo Hochwasser und Eisgang häufig vorkamen. Es erschien plausibel, dass der Einnehmer zugleich in seinem Haus Erfrischungen anbot. Aber bald fühlten sich die Passanten durch das Brückengeld beschwert, besonders in den Sommern, wenn die Nette so wenig Wasser führte, dass man sie mit Pferd oder Vieh ohne weiteres durchwaten konnte. Sie verweigerten die Zahlung. Der Brückengeld-Einnehmer oder Brückenwirt hatte einen schweren Stand. Man wich ihm aus, versuchte die Brücke zu umgehen. Im Gegenzug griff er immer öfter zur Gewalt, um das Geld zu erhalten. Er war ja über den achten Pfennig an der Einnahme beteiligt! Der Ruf des Hauses und seiner Bewohner verfiel. Wer sich dort aufhielt, galt als "liederliches Gesindel". So war es schon zu Zeiten, als die Familie Nuppeney noch den Landzoll und die Verantwortung für das Brückengeld innehatte. Mein Vorfahr Matthias Rübsam, der 1726 mit großen Vorsätzen den Pachtbrief über Landzoll, Nettegut und Brückengeld entgegennahm, hatte es nicht ändern können.

Zur Bewirtschaftung des Gutes zur Nette gab es einen Hofmann, einen Müller und einen Jäger. In den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts erscheint Paul Schäffer als Hofmann, 1732 Matthias Bartz. Beide Männer gehören zu der weitläufigen Verwandtschaft der Rübsams in Ochtendung. Das Nettebrückenhaus aber wird gesondert vergeben an einen "Brückenwirt", der auch der Einnehmer des Brückengeldes ist. Das ist im April 1731 Johann Caspar Schrumpf oder Strumpf aus Fulda, im Februar 1732 Johann Thiederich Lotz oder Lutz, ein Calvinist aus Dierdorf. Ich denke mir, nur ein Fremder übernahm noch das unbeliebte Amt und das einsam an der Landstraße gelegene Haus.

Dass am 13. Februar 1732 in diesem Brückenwirtshaus ein Totschlag geschehen war, machte die Nettebrücke vollends zum verfemten Ort. Vielleicht war es nur ein Unfall mit dem Gewehr. Aber es ging das Gerücht, die Helfershelfer des Brückengeld-Einnehmers seien nach ausgiebigem Alkoholgenuss in Streit geraten, wobei dann einer in der Stube erschossen wurde. Der Tote war Joseph Unckel aus Leutesdorf. Zwei Tatverdächtige wurden verhaftet. Der Fall wurde vom Gericht Andernach, zu dem die Schöffen Matthias Rübsam, Richard Doetsch, Michael Wolff, Caspar Paffrath, Johann Staudt und Servatius Nuppeney am 19. Februar 1732 tagen, an den "Hochgerichtlichen Hofrath", das heißt wohl ans Hohe Weltliche Gericht in Köln verwiesen. Dabei soll der Gerichtsschreiber Wendelin Sattler auch berichten, "wie gefährlich die behausung ahn der Nettenbrücken gelegen, und was für inconventien sich bishero darin begeben, weniger nicht waß für leuth auff der Netten Ohligsmühle und auff dem Hoff aufhalten". Doch wird andererseits dem Amtsverwalter Fuxius in Koblenz durch den gleichen Gerichtsschreiber mitgeteilt, "daß kein Zoll, sondern Brückengeld auß Churfl. D. ggst. Befehl ahn der Nettenbrücke gefordert werde". Das heißt, man will wohl gegen die Missstände vorgehen, aber grundsätzlich soll sich nichts ändern.

Nahe an der Nette wohnten die Bauern des Dorfes Weißenturm. Sie waren kurtrierische Untertanen, besaßen aber in der Andernacher Gemarkung Felder und Weideplätze. In der guten Jahreszeit führte sie ihr täglicher Weg zur Arbeit über die Nette. Kein Wunder, dass sie über das Brückengeld klagten! Bisher aber hatte die kurtrierische Regierung sich bei der kurkölnischen nur erfolglos für sie verwendet, wie zuletzt am 22. Januar 1732. Nun aber ist Blut geflossen! Es ist an der Zeit, endlich energisch die Abschaffung des Nettebrückengeldes und des Wirtshauses daselbst zu fordern!

Dritte Szene: Weißenthurms großer Tag

Am 19. April 1732 erlebten die Einwohner des Dorfes Weißenthurm eine große Genugtuung. Seit zwanzig Jahren hatte sich ihres fast täglichen Ärgers über das Nettebrückengeld niemand angenommen. Ihre Klagen bei den Magistraten in Koblenz, in Andernach, ihre Beschwerden beim Amtmann der Bergpflege, zu dessen Bezirk ihr Dorf gehörte, hatten bei ihrer Regierung wenig bewirkt. Mitgefühl fanden sie wohl bei Reisenden und Kaufleuten, deren Weg auch über die Nettebrücke führte – aber das war schon alles. Sie waren allein gelassen mit dem Problem der Grenze, die ihre Wohnhäuser von ihren Feldern und Wiesen trennte.

Heute aber können sie Hoffnung schöpfen. Es bewegt sich etwas! Der Amtsverwalter der Bergpflege, Herr C. F. Fuxius, kommt persönlich nach Weißenthurm, um ihre Beschwerden zu hören und zu notieren. Zur Bestätigung und Verstärkung der Wichtigkeit begleitet ihn der kurfürstliche Schultheiß von Kettig, Hans Jacob Hillesheim. Der Bürgermeister Peter Morten Lisch ist schweißgebadet. Was für ein Ereignis! Dass nur keiner Dummheiten macht! Die Chance, das lästige Brückengeld zusammen mit der verhassten Familie des kurkölnischen Einnehmers los zu werden, ist endlich da!

Gut, dass Herr Fuxius und Herr Hillesheim einen Schreiber mitgebracht haben. Wie oft haben die Bauern über die Übergriffe des Brückenwirts geklagt, stundenlang konnten sie Beispiele aufzählen. Aber nun ist es plötzlich schwierig, sich zu erinnern, schwierig, zu formulieren. Wer kann was bezeugen? Auf dem weißen Papier nimmt sich ihre jahrzehntelange Mühsal so mager aus. Trotzdem müssen sie jetzt reden. Dieser Tag kommt nicht ein zweites Mal! Aber wahr müssen ihre Anklagen sein, nachprüfbar! Das schärft ihnen der Amtsverwalter immer wieder ein. Die trierische Regierung will der Kölnischen Regierung energisch entgegentreten, aber sie darf sich nicht lächerlich machen mit bäurischen Märchen. Wie war es denn nun wirklich? Worüber habt ihr all die Jahre geklagt?

Mit großer Langsamkeit, unter vielen Pausen, Missverständnissen und Scham, unterdrückter Ungeduld und harschen Ausbrüchen von Zorn entsteht folgender Text:

Aktenzitat: "Nachdeme heudt dato unser Herr ambts Verwalter der gemein am weißen Thurm versammelet mit dem gethanen zusagen was wir von dem Hauß an der netten undt dasigem new aufgerichteten Zoll Vorzubringen undt zu sagen hätten.

Alß sagen wir gesambte weißen Thürmer dass dieses Hauß vor ein auffenthalt von allerhandt liederlichen undt diebspersonen Von anfang an gewessen, undt haben viele wirth da gewohnet worunter Einer mit nahmen langenbach welcher ahn neben falsch geldt geschlagen, wo herüber er in Hafften zu Andernach gewesen ist worden aber auß dem gefänckniß außgebrochen, ferner ist der letzte abgezogene wirth Caspar Strumpf welcher nicht allein auf Weißen Thurm, sondern auch Cöllnisch und andrer passanten mit degen und pflinden das Brückengeldt abgezwungen hatt anneben hat derselbige dem Joês Kreffen am weißen Thurm, welcher das andernacher pilger schief nacher buhrenhofen fahren sollen, Er aber under der brücken durch die nette geritten, ihme mit gewaldt 4 Kopfstück abgezwungen hat und deren sachen viel.

Ferner der jetzige wirth, welcher da wohnet hat den 13. febr. 1732 fünf geladener Kahren so von Cöllen mit wahren, sodan fünf Karren von Sebastian Engers welche ihren Zoll Zu andernach undt das weeg geldt richtig zahldt, hatt der Herr Rubsamen den fuhren Einen Zettel geben, dass sie auf der netten Brucke frey sein sollen, aber der wirth den Zettel nicht respectieren wollen sondern unter die fuß getretten, dieser jetziger wirth aber hat selbige Zehn fuhren ahn dem netten Hauß angehalten und restirt, aber der wirth den Hofman und den müller sambt dem Jäger daselbst zu Hülf geruffen.

Fn: der Simon Dösche ahm weißen Thurm hat wollen bürgschafft leisten Vor die Zehn Karren aber der wirth mit Keiner bürgschaft wollen zufrieden sein, sondern allem arrestieren nach an den weißen Thurm gehen müssen in der nacht Umb 11 Uhren dem wirth 6 rth. Zahlen müssen, Ehr und Zuvor die 6 rth. vom weißen Thurm kommen seindt, haben dan des wirths seine Hülfsleuth von dem netten Gut undt allerhandt gesindel gefressen und gesuffen undt einer den andern in der stuben todt geschoßen, war über die Andernacher Herrn selbst zeugniß geben können, undt wan dieses Hauß nicht abgeschafft wirdt, so dörften noch größer ungelück erfolgen.

Fn: hat ein Fuhrman kürtzlich von Cobelentz nacher andernach Werden längs die brücke gefahren hat danoch müssen bruckengeldt geben, und selbigem Eine Kette abgenohmen undt behalten biß er bezahlt hat. Weißenthurm den 19t. aprill 1732."

Dritte Szene, Schluss: Nun müssen alle unterschreiben, keiner darf sich drücken! "Bekenne wahr zu sein wie oben stehet" ist die Formel an Eides statt. Wer nicht schreiben kann, zeichnet mit seiner Hausmarke. Oder er bittet "handtastlich" einen Freund, ihm den Namen aufs Papier zu malen. Es müssen viele, möglichst alle Namen sein, sonst haben sie keine Aussicht auf Erfolg. Sechzehn Namen von Bürgern von Weißenthurm finden sich außer dem Bürgermeister Lisch, dem Amtsverwalter Fuxius und dem Schultheißen Hillesheim unter dem Schreiben. Fuxius und Hillesheim atmen merklich auf, als der Beschwerdebrief endlich fertig ist. Sie sind nicht aus Mitleid mit den armen Bürgern von Weißenthurm gekommen. Sie hatten einen "gnädigsten Befehl" zu diesem Ausflug aufs Land, das ist klar. Denn das Schreiben der Gemeinde Weißenthurm soll zugleich mit der Anklage des Wollenwebers Necker aus Koblenz just zur Zeit des Landtags das Consilium aulicum in Bonn erreichen.

Vierte Szene: Auf dem Landtag in Bonn

Zum 16. April 1732 ist der Landtag des Kurfürstentums Köln nach Bonn einberufen. Hochadlige und gelehrte Mitglieder des Domkapitels, reichsunmittelbare rheinländische Grafen, die rheinische Ritterschaft und die Deputierten von 17 Städten sind geladen. Sicher sind nicht alle gekommen, aber der Landtag wird beschlussfähig sein. Getagt wird im Kapuzinerkloster, jeder Stand hat für seine "Kurie" einen eigenen Sitzungssaal.

Hauptziel ist die Bewilligung der Steuern für das laufende Rechnungsjahr. Aber daneben gibt es allerlei ständische "gravamina", also Beschwerden, die in so genannten "instants" behoben oder zumindest bearbeitet werden sollen. Andernach steht als "Hauptstadt" an der Spitze der Städteliste. Seine Deputation besteht in Bürgermeister Matthias Rübsam, Stadtrat Düsseldorf als Subdeputiertem und dem Stadtschreiber Christian Kuelgen.

Anfang April ist das "Landtagsausschreiben" an alle Städte ergangen. Dazu zitiere ich aus dem Ratsprotokollbuch Andernach (1731 - 1735):

Aktenzitate: "Mittwoch d: 9ten Aprilis 1732 Coram D:D Rübsaem, Doetsch, Wolff, Welther, Paffrath, Kayserswerth, Ruitsch, Kuelgens, Düsseldorff

Auff Verlesung des Landtags ausschreibens seyndt darzu deputirt worden Hr. BBmr Rübsaem, alß dan Hr BBmr Rübsaem alß in ordine cum facultate sub deputandi, dann Christian Kuelgens, gestalten d: 16 dieses zu Bonn zu erscheinen. Hr. BBmr Rübsaem subdeputavit Hn. Düsseldorff."

Die Abordnung hat von zu Hause ein Limit der zu bewilligenden Gelder mitbekommen. Ich zitiere wieder aus dem Ratsprotokoll: "Sambstags Nachmittags d: 12. Aprilis 1732 Coram D:D: Rübsaem, Doetsch, Wolff, Welther, Sattler, Kayserswerth, Ruitsch, Kuelgens, Düsseldorff

Dan wirdt Hn Deputatis committirt die Termino annunciationis pro 1732 fällige Cameral Pension ad 462 Rtlr. g. 80 alb."

Vierte Szene, Fortsetzung: Matthias Rübsam reist also nach Bonn, allerdings erst Anfang Mai. Im April nimmt er noch an den Ratssitzungen in Andernach teil. Soweit ich nach den Abschriften der Landtagsprotokolle urteilen kann, dient der April in Bonn der Arbeitsvorbereitung. Die wird offenbar von den Fachjuristen der vier Stände, den Syndici, oder von Ausschüssen erledigt. Erst danach beginnt die Diskussion in den Kurien. Matthias Rübsam kennt sich aus, denn er ist oft auf den Landtagen gewesen. Es genügt, wenn die Andernacher Deputation Anfang Mai anreist. Frohgemut und seiner Routine vertrauend kommt also mein Vorfahr am 5. Mai 1732 in Bonn an.

Und dann der Schock: Gleich nach seiner Ankunft lässt das Consilium aulicum, der Hofrat, Matthias Rübsam auffordern, sich am folgenden Tag in die Kanzlei zu begeben. Dort händigt ihm der Kanzleibote Ebole "originaliter" den Brief der kurtrierischen Regierung mit allen Anlagen aus. Darin befindet sich die Anklage des Hubertus Necker. Man bittet den Andernacher Bürgermeister um Stellungnahme binnen drei Tagen. Die gute Laune meines Vorfahren ist dahin. Er muss lesen, was der Wollenweber Necker schreibt:

Aktenzitat: Wan aber nuhn nach inhalt beykommender Instrumenti Notariatis sub no. 3 das eingangs erzehlte factum nicht nur verificiret, vielmehr auch ahn tag leget, dass nur eine Karr mit einem Pferd Beladen geweßen, Verfolglich auch nicht mehr an Zoll zu zahlen hätte alß correktu gegeben habe, hingegen auch offenkündig, daß des Zoll Admodiatores kleineren Hundts übeln Zurichtung /: Worahn ich die geringste Schuld nicht gehabt/: eine Exacerbirung gegen mich erweckt Undt zu dieser purer und bloßer Chicane die eintzige ahnlaß gegeben habe, zumahl, auch erweisen kann, dass ahn keinen Churpfälzischen Zoll davon ich mehrere passiret mehr ahn Zoll zahlen müssen alß für eine Karr mit einem Pferd bespannet gezehlet zu werden pfleget, obschon der herunter gefallene Sack auff einer anderen Karren alleinig gelegen. Mithin auch offenbahr genug ist, wie wiederrechtlich der arrest angelegt noch wiederrechtlicher meine Waaren confiscirt werden wollen, denn annoch hinzu kommet dass ich dero Unterthan und bürger in der statt Coblentz mit S: H: schelmen und dieben tractiret und dergestalten In Zuhöhrung der Nachbahren schimpflichst ja ärgerlich Excipiret worden, welches bey aydtlicher abhöhrung sich äußeren wirdt, maßen diese zuhörende die attestata darüber zu geben irdisch respects halber recussiret, Ew. Churfürstl. Gnaden hingegen nicht erdulten werden, dass dero Unterthanen und bürger der statt Coblentz Von iren benachbahrten orthen dergestalten schimpflichst tractiret, undt allen rechten so wohl alß natürlicher Vernunfft zuwider die Waaren arrestirt undt confisciret werden sollten, Bevorab dieser Zoll Admodiator Rübsam BürgerMeister und Scheffe der Stadt Andernach Undt bey dasigem Scheffe stuhl gleichfalls das rueder führet die geringste Gerechtigkeit daselbsten mir nicht angedeyhen werde…."

Im Beischreiben der trierischen Hofräte sind die Beweise aufgelistet:

"Unßere hoch und VielgeEhrten Herrn belieben

der anlag Sub No. 1 des mehren ZuErsehen, wie des Andernacher Zollß Admodiator Rübsam gegen Hubertum Necken Bürgern und webern in Coblentz eigenmächtig zu Verfügen bevorstehen lassen, welches ohnnachbahrliche factum ob nun zwarn durch Coblentzer statt m.trat bey denen Zu Andernach Besag

d. anlag No. 2. schriftlich eingeklagt und geandet, forth die Erstattung der zur ungebühr arrestirten wolle suchet, danach auch Von dem Admodiatore Rübsam lauth

d. anlag sub No. 3tio declariret wie dass nichts mehr verlange, dan dass der Necken Hund loco damni Erschossen würde, darzu auch Erwehnter Necken inhalts

d. anlag Sub No. 4te willig erklähret, so hatt dannoch bis auff diese tag gegen alles vermuthen die restitutio nicht bewirkt werden wollen; Gleichwie aber obangesagtes Verfahren denen Zwischen beyden hohen ErzStiften Errichteten concordaten de non arrestatione inde Subditos ausfallen Zuwider Kond. auch der bescheid In zu auffhaltung d. wolle umb so ohnjustificirlich ist, alß alle arresten gegen laufende gnugsambe caution ohn dem dejure Zu relaxiren…."

Vierte Szene, Fortsetzung: Matthias Rübsam weiß zu würdigen, dass er höflich behandelt wird, indem man ihm, dem völlig Überraschten, drei Tage bewilligt, um sich zu sammeln, einen Advokaten bei zu ziehen und ein memoriale zu verfassen. Aber er versteht auch, dass er in den Augen der eigenen Regierung seine Amtsbefugnisse eines kleinen Hundes wegen überschritten hat. Besonders schwer wiegt, dass der Wollenweber behauptet, er habe beim Schöffenstuhl in Andernach sein Recht nicht suchen können, da ja auch dort sein Gegner Matthias Rübsam das Ruder führe. Mein Vorfahr gibt nach, wie ihm sein Anwalt Hilmen rät, indem er die Entscheidung "Eurer kurfürstlichen Durchlaucht gnädigster Erkenntnis" überlässt:

Aktenzitat: "Nachdeme aber beſ r Coblentzer Bürger sich zur Billigkeit nicht abfinden wollen, so ist dessen woll jedoch ohne mein wissen zu Andernach ligen geblieben, welche er doch totiens quotiens abnehmen können, wan nur Er einiger maßen entweder mit Discreten rehden, oder sonsten sich eingestellet und seine und seines Hundes Excessen ahnerkennet hette, nichts destoweniger, weilen er die sach durch ein hohes Vorschreiben zum Churfürstl. Hofrath dahier gedeyhen lassen, und ich alß zum gegenwertigen Landtag Deputatus die zu widerlegung desselben Klag nöthige nachrichtungen nicht zur stelle sondern zu Hauß gelaßen habe, so thue zu der sachen schleuniger abhelffung und auß underthänigstem respect mich dahin erklähren, erleyden zu können, daß dem klagenden Coblentzer Bürger seine woll jedoch mit dem Verweiß Verabfolget werde, dass Er ins Künfftig gegen einen Landtzolls admodiatoren mit mehrer und auffrichtiger bescheidenheit sich auffführen solle. Es Ewr. Churfürstl. Dlcht. g.ster erkenntnis überlaßendt

Ew. Churfürstl. Dlcht.

Unterthänigster Anwalt

HGHilmenpp

Kurtze und underthänigste erzehlung des facti mit gehorsambster erklehrung

Mein

Matthiae Rubsaems deß

Landtzolls admodiatoren

Zu Andernach"

Vierte Szene, Fortsetzung: Dieses Aktenstück wird am 9. Mai 1732 im Hofrat zu Bonn vorgelegt. Ich lese es mit Befriedigung. Offenbar hat mein Vorfahr nach fast einem Jahr den Tod seines Hündgens verarbeitet. Seine "erzehlung" wirkt kleinlaut. Selbst wenn der Wollenweber über den Kampf der Hunde nicht wahrheitsgemäß berichtet, (denn die Zollhofhunde sind wie Gastwirtshunde an fremde Artgenossen gewöhnt und "überfallen" sie nicht), so hat er doch sicher damit recht, dass er den Tod des Hündgens in keiner Weise beabsichtigt hat und wohl auch kaum verhindern konnte. Wenn Matthias Rübsam nun alles der "gnädigsten Erkenntnis" des Kurfürsten überlässt, so vertraut er sich damit dem "eigentlichen Herrn des Kurfürstentums" an, dem Grafen Ferdinand von Plettenberg.

Exkurs: Graf Ferdinand von Plettenberg

Mit dem Leben des Grafen von Plettenberg hat sich Max Braubach ausführlich befasst. Auch Aloys Winterling hat ihm in jüngerer Zeit Aufmerksamkeit gewidmet. Die Tatsache, dass ein geistlicher Kurfürst gewählt werden musste, gab denjenigen, die die Wahl vorbereiteten und durchsetzten, eine beachtliche Macht im Staat. Dem Grafen von Plettenberg "hauptsächlich hatte der bayrische Hof die Erhebung des jungen Prinzen Clemens August auf die durch den Tod Franz Arnolds von Metternich 1719 freigewordenen fürstbischöflichen Stühle von Münster und Paderborn zu verdanken …. Er … war es dann aber auch, der die Bedenken des kränkelnden Joseph Clemens von Köln gegen die Annahme seines Neffen als Koadjutor mit dem Rechte der Nachfolge zu überwinden und auch hier die Wähler günstig zu stimmen wusste." Plettenberg also hatte Clemens August von Wittelsbach auf den Stuhl von Köln geholfen. Deswegen wurde er zum Mentor des unerfahrenen jungen Fürsten eingesetzt, erhielt mit 29 Jahren das Amt des Obristhofmeisters, mit 34 das des Ersten Ministers und wurde, "da der Kurfürst in seiner sich rasch entwickelnden Vergnügungs- und Baulust ihm die Entscheidung in fast allen politischen Fragen überließ, die wichtigste Persönlichkeit an diesem geistlichen Hofe."

Zur Persönlichkeit des Grafen zitiert Braubach einen Zeitgenossen, den Baron Pöllnitz, der just im Juli 1732 Bonn besuchte: "Der Graf übt seine Macht mit Mäßigung aus. Er ist ein liebenswürdiger Aristokrat. Sein Auftreten ist edel und gewandt, sein Äußeres angenehm. Er zeigt keineswegs jenen Anflug von Hochmut, den gewöhnlich die vom Glück begünstigten Menschen annehmen. Premierminister eines großen Fürsten in einem Alter geworden, in dem gewöhnliche Sterbliche kaum an eine Einmischung in die Politik zu denken wagen, hat er sich aus der Arbeit ein Vergnügen gemacht, ohne jene geheimnisvolle und verschlossene Miene zu zeigen, die nur die Herzen entfremdet. Man hat leicht Zutritt zu ihm, dann hört er mit Aufmerksamkeit zu und antwortet bestimmt ohne Ausflüchte und Weitschweifigkeiten. Er ist großmütig, freigebig und wohltätig, wachsam, arbeitsam und arbeitsfreudig. Jeden Tag steht er schon um 5 Uhr auf und widmet den Morgen den Geschäften. Sodann hält er glänzend Tafel, wobei er inmitten von Überfluss und Üppigkeit sich selbst einer gerade bei hochgestellten Persönlichkeiten so lobenswerten Genügsamkeit befleißigt. Nach dem Essen begibt er sich in sein Kabinett, wo er den untergeordneten Ministern Audienz gibt, während die Gräfin, seine Gemahlin, in seinem stets allen Leuten von Rang und Verdienst geöffneten Hause die Honneurs macht. Wie er als einer der reichsten großen Herren Deutschlands geboren ist, so gehört er zu den prachtliebendsten. Seine Ausgaben sind beträchtlich. Sein Bonner Hof ist reich möbliert und enthält ausgezeichnete Gemälde der besten Meister." Doch die Macht am Hof von Bonn, von wo aus doch fünf geistliche Fürstentümer regiert wurden, war dem ehrgeizigen Plettenberg nicht genug. Er strebte nach einer vergleichbaren Aufgabe im Reich: dem Posten des Reichsvizekanzlers von Wien. Dieses Amt hatte der Bischof von Bamberg inne, Friedrich Karl von Schönborn. Und der war ausgerechnet der Bruder des Kurfürsten von Trier. Das machte den Trierer Kurfürsten zum persönlichen Feind des Kölner Premiers. Schon 1730 bezeichnet Franz George von Schönborn den von Plettenberg als "einen der gefährlichsten Staatsmänner Europas". Der im Sommer 1731 energisch aufgenommene Streit um Landzoll und Nettebrückengeld in Andernach kann durchaus eines der Mittel sein, durch das der Kurfürst von Trier den Grafen von Plettenberg treffen möchte. Matthias Rübsam hat also durch seine Unbeherrschtheit beim Tod des Hündgens und seine mangelnde Durchsetzungskraft gegenüber dem Brückenwirt nicht nur dem Wollenweber und den Weißenthürmern geschadet, sondern auch dem Premier.

Vierte Szene, Fortsetzung: Auf dem Landtag zu Bonn

Natürlich gehört der Graf von Plettenberg als Premier des Kurfürsten nicht auf den Landtag der Stände. Deshalb hält er sich im Mai 1732 nicht in Bonn, sondern in Brühl auf. Dass aber ohne ihn nichts läuft im Kurfürstentum, wie Max Braubach ausführt, bezeugen auch die Abschriften der Landtagsprotokolle. Da fahren nämlich die Herren Syndici im Auftrag der Stände am 9. Mai nach Brühl, um die sauber abgeschriebenen Entwürfe zur Lösung der anstehenden Probleme der Exzellenz Plettenberg vorzulegen. Dabei gratulieren sie offiziell dem Premier zum Orden des Goldenen Vließes, den er gerade vom Kaiser erhalten hat als Belohnung dafür, dass er seinen Kurfürsten mit den politischen Zielen des Kaisers versöhnte. Dass der Graf von Plettenberg zu dieser Zeit schon mehr nach Wien blickt als nach Bonn, wissen die kölnischen Stände vielleicht noch nicht. Am Samstag, dem 10. Mai, sind die Syndici wieder zurück und berichten über die Erledigung ihres Auftrags. An diesem Tag speisen mein Vorfahr und sein Subdeputatus Düsseldorf bei Hofe. Und noch am selben Tag wird im Konferenzzimmer des Domkapitels

Aktenzitat: "….. deliberirt, wie die weeg bey andernach und Melhem in einen brauchbahren stand gesetzt werden könten, worauff resolvirt worden, daß der ingenieur Schlaun mit Bbm. Rübsam sich auff Andernach erheben, undt die weeg bey Melhem und Andernach, welche zu repariren ständen, recomondirt werden, in augenschein nehmen, forth einen überschlag machen, wie sothane reparation ahm füeglichsten geschehen könnte, auch was darzu erforderlich wehre, hernegst referiren sollte."

Vierte Szene, Fortsetzung: Ich habe also das Vergnügen, mir vorzustellen, wie der begabte Architekt Johann Conrad Schlaun, der gerade den Schlossumbau von Brühl und den Bau von Falkenlust geleitet hat, der demnächst das Jagdschloß Clemenswerth erbauen wird, gelangweilt und lustlos als zuständiger Ingenieur mit meinem Vorfahren, dem Bürgermeister und Landzollpächter, die Straßen zwischen Andernach und Mülheim abfährt, um Vorschläge zu ihrer Reparatur zu machen. Gegen Ende des Landtags werden die Stände bemängeln, dass Schlaun die Kostenvoranschläge noch nicht fertig hat!

Eins der wesentlichen gravamina des Landtags von 1732 ist der Landzoll. Die Klage von Kurtrier gegen Matthias Rübsams Gebahren trifft auf eine Kette von Beschwerden der eigenen Landeskinder gegen die Behinderung des Handels durch Zollschranken. Am 13. Mai erklärt sich die kurfürstliche Regierung – und das heißt ja: der Graf von Plettenberg – bereit, diejenigen Zollpachtverträge, deren Frist zur Hälfte abgelaufen ist, zu kündigen und bei der Neuverpachtung viele inländische Waren von Zoll zu befreien. Davon ist mein Vorfahr direkt betroffen. Da er im April 1726 den Landzoll bekam, ist im April 1732 für ihn "halbscheid" gewesen. Das ist der Termin nach sechs Jahren, zu dem jede der beiden Parteien den sonst zwölfjährigen Vertrag kündigen kann. Handelt es sich also bei der Verfügung im Namen des Kurfürsten um eine "lex Rübsam"? Droht das eigene Fehlverhalten meines Vorfahren und seine mangelnde Aufsicht über den Brückenwirt ihn um den Landzoll zu bringen? Mir scheint, Matthias hat versucht, durch die Inspektionsreise mit Schlaun und Versprechungen zur Reparatur der Wege dem drohenden Verlust der Landzollpacht vorzubeugen. Aber der "arbeitsame und arbeitsfreudige" Plettenberg will gründlich aufräumen. Am 28. Mai muss Matthias Rübsam noch einmal in der Hofkanzlei Rede und Antwort stehen zur Praxis des Andernacher Landzolls. Er sagt aus:

Aktenzitat: "Erstens das Brückengeld betreffend seyn solches Vorhin niemahlen gegeben worden, weilen kein Brück allda gewesen, alß aber hernegst bey der ThumbCapitularischen administration die jetzige brück erbaut worden, seyn das Brückengeld ernegst bezahlt worden.

Was zweitens den Zoll angehet, würde selbiger zu Andernach am Haubt Zoll, keineswegs aber an der Brücke gefordert und bezahlt. Sollte aber der negst der Brücke wohnende wirth selbiges erfordert haben, würde darbey unrecht geschehen, und müsste selbiger darVor angesehen werden."

Vierte Szene, Schluss: Diese Einvernahme vor dem Hofrat Krahmer findet in der "HofCantzeleyen" statt. Ob mein Vorfahr auch zu den Menschen gehörte, die auf Grund von "Rang und Verdienst" Zutritt zum prächtigen Plettenberger Palais hatten, weiß ich nicht. Immerhin hat er ja als Deputatus von Andernach bei Hofe gespeist! Das aber weiß ich: Am 29. Mai 1732 schickt sich der Erste Minister von Kurköln an, den Bürgermeister Matthias Rübsam im späteren "Meringhof" in Andernach zu besuchen.

Fünfte Szene: Ein Compliment für den Grafen von Plettenberg

In der Ratsstube in Andernach sitzen am Abend des 29. Mai 1732 nur noch die Ratsherren Richard Doetsch, Michael Wolff, Dr. Ferdinand Welther, Theodor Kayserswerth und Heinrich Ruitsch. Das gemeinsame Essen, prandium genannt, ist vorbei. Caspar Paffrath, der Schwiegersohn von Matthias Rübsam, und der Notar Wendelin Sattler sind schon heimgegangen. Die Tagesordnung ist beendet. Aber Richard Doetsch, alter Freund meines Vorfahren, Trauzeuge bei der Hochzeit des Rheinzöllners von Mering mit Gertrude Rübsam, hat einigen Herren ein Zeichen gegeben, doch noch ein wenig beim Ratsbier sitzen zu bleiben. Jetzt bittet er sie, etwas näher zusammen zu rücken. Der Ratsdiener muss nicht gleich alles hören. Richard Doetsch hat noch etwas auf dem Herzen.

Mit halblauter Stimme erzählt er nun, dass er von Herrn Dr. Welther erfahren habe, der es seinerseits aus sicherer Quelle wisse, dass der Erste Minister des Landes, der berühmte Graf von Plettenberg, nach Andernach unterwegs sei, ja, noch heute Abend hier eintreffen werde. Deswegen sei ja auch Herr Bürgermeister Rübsam schon so zeitig vom Landtag in Bonn zurückgekehrt. Der Graf von Plettenberg werde nämlich im Rübsamschen Hause übernachten.

Wie solle der Rat von Andernach sich verhalten? Das sei doch sehr zu überlegen. Man dürfe nichts falsch machen. Schließlich sei der Graf der eigentliche Regent des Landes, da der Erzbischof sich, wie jeder wisse, um nichts kümmere. Andererseits wolle man auch nicht zudringlich oder unterwürfig erscheinen. Das habe Andernach nicht nötig.

Der daraufhin gefasste Beschluss wird ins Protokollbuch eingetragen:

Aktenzitat: "Mein praesentation ahn Ihro Exl von Plettenberg Nachmahlen H. Dr. Welter zu verstehen geben in glaubhafft und sichere nachricht kommen zu sein, auch Hr Bmr Rübsam von Bonn deshalb allhier seyn und referirt dass Ihro Excelentz graff von Plettenberg diesen Abend allhier ahnkommen und bey Hn Bm Rubsam logiren würde wie man sich diesfalls hierbey zu verhalten hätte. Warüber excludirt worden selbigen zu Complementiren und 12 Bouteille wein zu presentieren."

Fünfte Szene, Fortsetzung: Richard Doetsch ist sichtlich stolz auf diese elegante Lösung des Problems. Man redet noch eine Weile über die Form des Kompliments, die richtige Titulatur, die Unterschriften. Die zwölf Flaschen Wein sollen natürlich von den besten sein. Werden sie dem Ratskeller entnommen? Oder steigt Richard Doetsch in seinen eigenen Weinkeller, wie das "Mein praesentation ahn Ihro Exl von Plettenberg" vermuten lässt? Nimmt man sechs rote und sechs weiße? Oder von vier Spitzensorten je drei?

Das werde ich ebenso wenig erfahren wie das, was die beiden Männer, der junge Premierminister und der alte Bürgermeister und Schöffe von Andernach, in jener Nacht besprochen haben. Wichtig muss es gewesen sein. Sicher war Graf von Plettenberg nicht ohne Begleitung in Andernach – zumindest Reitknecht und Sekretär werden mit ihm gereist sein – aber die Möglichkeit zu einem Gespräch unter vier Augen bot das Haus des Matthias Rübsam allemal. Auch eine Besichtigung von Nettebrücke und Brückenwirtshaus konnten durchaus auf dem Programm des "arbeitsamen und arbeitsfreudigen" Ministers stehen. Ob die abendliche Mahlzeit im herrschaftlichen Haus an der Pfeffergasse, der heutigen Meringstraße, eingenommen wurde? Wurde der Schwiegersohn Rübsams, der Rheinzöllner Johann Friedrich von Mering, bei dieser Gelegenheit dem Grafen vorgestellt? Das alles bleibt im Verborgenen. Nur dass nach dieser Nacht einige Sitzungen im Ratshaus von Andernach so turbulent verliefen, dass man sie nicht protokollieren mochte – das weiß ich bestimmt. Sechs Seiten wunderbaren Papiers in diesem kostbaren Buch sind völlig leer! Was sich bei und nach dem Besuch des Grafen von Plettenberg zugetragen hat, hat dem ganzen Andernacher Rat offenbar die Sprache verschlagen. Erst am 19. Juni wird das Ratsprotokollbuch der Stadt Andernach in gewohnter Form und Handschrift fortgesetzt.

Folgen des Besuchs der Exzellenz von Plettenberg werden im Ratsprotokoll erst am 14. August 1732 und dann ganz wie nebenbei sichtbar. Unter anderen Tagesordnungspunkten erscheint die Notiz:

Aktenzitat: "Ihre Churfürstl. Dlcht. Zu Cöllen hertzog Clemens August in Ob= undt Nideren Bayeren, unser gster Herr befehlen dero Schultheißen zu Andernach Servatio Nuppeney alß Landzollpfächteren hiermit gnädigst, den der Statt Andernach Von dasigem LandtZoll compezirenden Turnum auß denen pfachtgeldern nach umblauff eines jeden quartals gegen schein zu entrichten, die allso beschehene Zahlung demnachs zur Churftl. Landt-Renthnerey anstatt bahren gelts zu übertragen. Sigl. Bonn d. 8. Augt 1732"

Fünfte Szene, Schluss: Der Text beschäftigt sich vordergründig nur damit, in welcher Weise der so genannte Turnus, der Anteil der Stadt Andernach am kurkölnischen Landzoll, abgerechnet werden soll. Die Nachricht für den Familienforscher ist jedoch die Tatsache, dass der Pächter des Landzolls Servatius Nuppeney heißt. Der neue Pachtbrief über den Landzoll von Lintz und Andernach wird zwar erst am 26. 9. des Jahres ausgefertigt, aber dieser kurfürstliche "gnädigste Befehl", der ja eigentlich eine Verfügung Plettenbergs ist, richtet sich schon Anfang August an den Schultheißen Servatius Nuppeney als neuen Landzöllner. Mit ziemlicher Sicherheit kann ich also folgern, dass der Graf von Plettenberg in jener Nacht vom 29. zum 30. Mai 1732, als er in Matthias Rübsams Haus einkehrte, seinen Gastgeber überredet hat, das Amt des Landzöllners aufzugeben.

Matthias würde am 9. Juli 70 Jahre alt werden. Er konnte wohl einsehen, dass er sich bei den Hofleuten auf dem Gut zur Nette und beim Brückenwirt nicht ausreichend durchgesetzt hatte. Sein Wutanfall nach dem Tod des Hündgens war ein Signal, in Zukunft etwas kürzer zu treten. Was er aber sicher schwer verkraftet hat, ist der Umstand, dass ein Mitglied der Familie Nuppeney sein Nachfolger werden sollte. Sehr wahrscheinlich hat er versucht, einen andern Kandidaten als Landzollpächter ins Spiel zu bringen. Er mag einen seiner jungen Verwandten aus Ochtendung im Auge gehabt haben: einen Rübsam oder Lennartz, einen Kraft oder Monreal. Vielleicht dachte er sogar an einen seiner beiden Schwiegersöhne: den Schöffen Paffrath oder den Rheinzöllner Mering. Und ist dabei auf heftigen Widerstand bei den andern Ratsherren gestoßen. Das sind vielleicht die Sitzungen, die selbst der schließlich vom Landtag heimgekehrte, sonst so gewandte Ratsschreiber Kuelgen nicht protokollieren mochte. Erst am 19. Juni kehrte man im Rathaus von Andernach zur normalen Tagesordnung zurück. Matthias Rübsam hatte resigniert.

Sechste Szene: Im Officialat von Koblenz

Schon September, der 13. September 1732. Sacellan Schwang sitzt am Schreibtisch im Officialat Koblenz. Er muss endlich dieses "Vorschreiben" fertig machen, diesen Brief an seinen Erzbischof in Trier. Schwang seufzt. Er ist bloß ein kleiner Sacellan, und deswegen schiebt der Official ihm die unangenehmen Aufgaben zu, immer ihm! Dann darf er sich "Officialatsverwalter" nennen. Ausgerechnet er muss den Brief des Pfarrers Brussel aus Andernach weiterleiten. Was hat der da nur wieder geschrieben! Schwang bekommt rote Ohren, als er sich in den Text vertieft.

Er schaut aus dem Fenster. Lieber läse er jetzt draußen sein Brevier, es ist ein herrlicher Herbsttag. Stattdessen muss er an den Erzbischof schreiben. Nun, er weiß schon, dass es nicht der Erzbischof sein wird, der diesen Brief liest. Irgendeiner von den Hofräten wird es sein und sich über ihn und den Pfarrer Brussel von Andernach lustig machen. Dabei hat die Regierung selbst das kirchliche Urteil über das Nettebrückenhaus vom zuständigen Ortspfarrer gefordert. Hätte Schwang etwa selbst hinreisen sollen und sich vor Ort ein Urteil bilden? Nein, der Dienstweg muss eingehalten werden. Der Hofrat schreibt an das Officialat, das Kirchengericht der Diöcese Koblenz, das Officialat gibt es an den Pfarrer weiter, in dessen Parochial District das Objekt gelegen ist. So ist es in Ordnung. Denn Andernach gehört nur kirchlich zum Erzbistum Trier, politisch untersteht es der kurkölnischen Regierung. Das ist es ja gerade, warum sich der Hofrat an die Kirche wendet! Doch nicht aus besorgter Frömmigkeit oder weil es ihm um das Seelenheil der Andernacher zu tun ist. Nein, Trier ist im Begriff, einen diplomatischen Krieg mit Köln zu führen und da nutzt es die Pfarrer als Zulieferer von Munition. Und der Pfarrer Brussel ist voll dabei! Der glaubt womöglich alles, was er da schreibt: dass das Nettebrückenhaus Gottes Strafgericht auf ganz Andernach herabziehen werde, weil dort Huren und Schwule sich tummeln. Seine alten Kanzelschwalben lügen ihm die Hucke voll! Wahr ist allerdings, dass seit einem halben Jahr ein Calvinist Brückenwirt ist. Aber muss man das so eng sehen? Kann er, Schwang, als gebildeter Mensch und Jurist diesen Brief überhaupt weiterleiten? Er liest noch einmal:

Aktenzitat: "Demnach auf mein durch viele und lange Jahren eyffrig und nachtrücklichst hin und wieder dahier gethanes mündliches Ersuchen, und so offt erhohltes tieff ins gewissen und hertz redendes ermahnen, biß hierher mir nichts geübriget, alß ein unter beängstigten seuffzern, bey mir nahmens der verletzten göttlichen Ehren unterhaltenes stille Klagen: daß annoch das an der Netten Brücken, hiesigen Districtus, erbautes unglückliches Hauß unumbgeworffen stehe und wohlwissig gelitten werde, welches doch von menschen gedenken keiner anderer Ehren werth geachtet worden ist, alß denen straff- und Rache-flammen überantworthet zu werden. Alß hab ich Vermeint zu meines, darüber biß hirhin beschwert geweßenen gewissens entbindung, und erleuchterung in so viel mehr zulänglich zu seyn, was nebst dem allwissigem Himmel, und hiesigen, hierunter gnugsamb unterrichteten inwohnern, auch ich der gantzen, Gottliebenden Welt anzeigte, allen von diesem Hauß gestiffteten, und noch weiters ohne unterlaß zu stiffteten unheils standt; anerwogen ein solches glaube viel, zu meiner nachmahlens und vor dem strengen gericht Gottes einzuwendendem gegründten gerecht fertigung und unschuldt-Erweißung beyzutragen. Gleichwie dan des Endts durch und Krafft dieses öffentlich instruments allen und jeden Kundt und zu wissen seye, was gestalten offt gerechtes Hauß an der Nettebach eine wahrhaffte auff- und unterhalt seye und seyn werde, wie lang es stehen wird, vieler ja unzähliger wüsten, gefährlichen und nichts alß unersetzlichen schaden in Landt und nachbahrlich bewegenden Leuth; ohne das auf S: V: mit großer meng die garstige landhuren sich einfinden, welche andere von allerhand ständten /: so gar jenes standts, deren schandthat umb die welt dardurch nit über alles zu ärgeren, mit jenes großmächtigsten Kaysers Mantel Verdeckt bleiben soll:/ anlocken, verführen, und öffters mit dem stinckenden fleck gezeignet abreißen lassen den man nennet Lues Venerea gleichwie mir in geheim wohl wissig, manchen von Distinction nebst unterschiedlich anderen gemeinen Leuth wiederfahren zu seyn. Woraus dan klar und von selbst am tag lieget, dass sothanes Hauß seye ein immer während ursprung allerhand schwährsten ärgernissen und solcher sünde, welche nichts alß den allgemeinen Zorn und Rach Gottes unausbleiblich, und in so viel versicherter ausforderen, je wahrer auch über alles obiges, dass sothanes Hauß für ein deckblatz, allwohe sich nächtlicher weyle auffzuhalten biß zu ihrer bestimbten Zeit, öffters darfür in gemeinen ruff gehalten worden; solche gottes vergessenen menschen welche anderen nur nach dem ihren trachten. Zu dessen alles schädlicheren Hegung vielbey zutragen scheinet fürs künfftige, dass nunmehro, ungefähr von einem halben Jahr her, zu Besagtem Hauses Erblich beständigen würklich gegen allen höchst glorwürdigsten Brauch deren dreyen geistlichen Churfürstenthümber /: welche keinen von wiedriger Religion höchst Ihren Bischoffthümber desto reiner und heiliger zu bewahren, alß unterthanen in Landen erduldt:/ ein Calvinci von Neuwied mit weib undt Kindern ist ahn- und auffgenohmen worden."

Sechste Szene, Fortsetzung: Schwang schämt sich dieses grammatisch krausen, inhaltlich schwülen Textes. Und er ärgert sich als Seelsorger darüber. Er weiß, dass die Honoratioren von Andernach lieber zu den Minderbrüdern in die Messe und zur Katechese gehen als in die Pfarrkirche. Sie gehen dem von Trier aus ernannten Johann Heinrich Brussel aus dem Weg, soweit das möglich ist. Mit Trauungen und Taufen freilich sind sie an die Pfarrei gebunden. Der Sacellan weiß das, er weiß aber auch, dass dieser düster drohende Text genau das ist, was der Hofrat auf dem Ehrenbreitstein gebrauchen kann. Er wird über die Übertreibungen lachen und sie trotzdem als Druckmittel gegen Köln verwenden: So weit ist es gekommen, seht her! Das einsame Wirtshaus an der Nettebrücke ist zwar nur ein Hüttchen, aber alle Laster finden dort Unterschlupf. Eine Gefahr für die ganze Umgebung! Das bezeugt der Ortspfarrer selbst. Das Haus muss weg und damit auch das Brückengeld.

Schwang taucht den Federkiel in das Tintenfass. Er schreibt.

Aktenzitat: "Der übele ruff, welcher Von geraumer Zeit her dahier erschollen, alß sollten in dem an der Nettebach ohnweith Andernach errichteten Hauß so Viele undt himmelschreyende sünden ausgeübet werden, hat die anlaß gegeben, dass Pastorem zu andernach, alß in dessen Parochial District das Hauß gelegen, Constituirt, und dem selben mit gegeben worden, aydt und pflichtmäßig darüber anhero zu berichten. Gleichwie nun die anlage mit mehrerem besagt, daß das in der Nachbarschafft aus gebreitete gerücht zumahlen nicht ohnwahr, und daselbsten vielmehr solche unthaten sich Eüssern, welche theils schamhalber nicht genennet, die offenkündige überhäuffte sünden aber alßo gethan, dass die göttliche gerechteste Straf über die Nachbarschafft gezogen werde. Alß habe Ew. Churfürstl. Gnaden qua loci ordinario ein solches unterthänigst anzeigen und bitten sollen, Ew. Churfürstl. Gnaden gdst geruhen mögten, die zulängliche Mittel Vorkehren zu lassen, womit solchem Verdamlichen ohnweßen gesteuert werdten."

Sechste Szene, Schluss: Er fügt das Datum hinzu, den 13. September 1732, die Schlussformel "untertänig treugehorsamster" und seine Unterschrift. Er streut Sand über den Brief und hält ihn schräg ins Licht. "Dass das in der Nachbarschaft ausgebreitete Gerücht zumalen nicht unwahr" liest er sich selbst laut vor. Nun, er hofft, dass der Hofrat seinen Vorbehalt wahrnimmt ebenso wie seine untertänig treugehorsamste Dienstfertigkeit. Es hilft nichts. Er muss das "Vorschreiben" samt Anlage absenden. Er erhebt sich und klingelt dem Laienbruder.

Exkurs: Das Scheitern des Grafen von Plettenberg

Am Tag, nachdem der Graf von Plettenberg seinen Besuch im Hause meines Vorfahren gemacht hatte, am 30. Mai 1732, hatte er die Kölner Regierung veranlasst, einen höflichen Brief an die Trierer zu schreiben, dass Hubertus Necker doch zum guten Teil die anhaltende Arrestierung der Wolle selbst verschuldet habe, dass an der Nettebrücke keineswegs Zoll, sondern nur ein Brückengeld genommen werde – ganz wie es die Trierer an der Moselbrücke ja auch täten – und dass von der Gefährlichkeit des Wirtshauses an der Nette den Kölnern nichts bekannt sei. Die Dispensierung des Landzöllners steht noch nicht im Brief, aber sicher haben die Trierer das bald genug erfahren. Der Graf von Plettenberg hatte wohl gehofft, dass damit dem Trierer Angriff auf das Nettebrückengeld die Spitze genommen sei. Mitte September muss er einsehen, dass er sich geirrt hat. Wie die Akte Nr. 1437 des Bestands Kurköln nachweist, trifft ein neues Konvolut vom Ehrenbreitstein aus in Bonn ein: Die Hofräte schreiben: die Arrestierung von Zollgut ist gegen die Reichsgesetze und gegen die freundnachbarschaftlichen Abmachungen zwischen Köln und Trier. Die kleine Nettebach lässt sich mit der schiffbaren Mosel nicht vergleichen, denn eine Moselbrücke erfordert ständige Wartung, während die Brücke über die Nette sich in den vergangenen zwanzig Jahren längst bezahlt gemacht hat. Und was das Wirtshaus betrifft, so sollen die Hofräte doch mal lesen, was die Herren Pfarrer darüber wissen! Die Schreiben des Officialatsverwalters Schwang aus Koblenz und des Pfarrers Johann Heinrich Brussel von Andernach liegen bei.

Es ist sehr schwer, sich heute vorzustellen, was ein Mann wie Plettenberg beim Lesen dieser Pastoralbriefe empfunden hat. Der Schmuck der Schlösser seines Herrn ebenso wie der seines eigenen in Nordkirchen bei Münster lebte von antiken Vorbildern. Der Graf war humanistisch gebildet und stand als begabter und weltgewandter Mensch schon am Beginn der Aufklärung. 1725 hatte er als Begleiter seines Herrn, des jungen Erzbischofs, in Paris an der Hochzeit Ludwigs XV. teilgenommen. Dort könnte er seinem Altersgenossen Voltaire begegnet sein, der damals schon eine königliche Pension bezog.

Trotzdem wird der Zusammenhang von irdischem Laster und göttlichem Strafgericht, wie er in den Briefen der Geistlichen beschworen wird, ein Echo in der Seele des Grafen gefunden haben. Zumindest wird die verquere Art, die "überhäufften Sünden" im elenden Wirtshaus an der Nette als Druckmittel gegen ihn zu gebrauchen, den Grafen erschreckt haben, vielleicht auch angeekelt. Der Streit um diese Petermänger könnte das Gefühl verstärkt haben, dass er weg muss aus Bonn, dass er für höhere Aufgaben in Wien geschaffen ist. Trotzdem bleibt ihm zunächst nichts übrig, als zwischen September und Dezember 1732 nach Möglichkeiten zu suchen, wie man den Landzoll samt dem Nettebrückengeld verteidigen kann. So befinden sich Schreiben von dem Schultheißen Servatius Nuppeney und dem Ratsherrn Richard Doetsch in der Akte Nr. 1437, Best. 2, in denen die Ergebnisse ihrer Befragung alter Fuhrleute zum Moselbrückengeld früher und heute niedergelegt sind. Ob diese Beweisaufnahme je verwendet wurde, ist zweifelhaft. Denn ganz plötzlich endet der Kampf zwischen Köln und Trier. Wie vorher im Ratsprotokollbuch von Andernach klafft nun in der Akte Nr. 1437 eine Lücke: zwischen dem 19. Januar 1733 und dem 10. April 1738 ruht der Briefwechsel der Regierungen fünf Jahre lang. Die Gründe dafür divergieren ebenso wie 1731 bei Beginn der Auseinandersetzung.

Der Polnische Erbfolgestreit ist der erste Grund. Am 1. Februar 1733 starb August II. von Sachsen, König von Polen. Zwar hatte er seinem Sohn August III. den Thron in Warschau zugedacht, aber der Kaiser und Preußen bevorzugten einen portugiesischen Prinzen. Frankreich brachte als seinen Kandidaten Stanisław Leszczyński ins Spiel, den Vater der Königin in Paris. Die Polen wurden nicht gefragt. Es kam zum Krieg zwischen Frankreich und dem Reich. Trier wurde von den Franzosen besetzt, das Moseltal mit Soldaten überzogen. Reichstruppen rückten an den Rhein. Über die Nettebrücke stapften Stiefel und Hufe. Petermänger wurden sicher nicht bezahlt.

Der zweite Grund ist der Sturz des Grafen von Plettenberg. Am 5. Mai 1733 hatte vor den Toren Bonns ein Duell stattgefunden. Darin tötete ein junger Verwandter des Grafen den Deutschordens-Komtur von Roll, den seit neuestem bevorzugten Günstling des Fürstbischofs von Köln. Wut und Trauer schlugen über Clemens August von Wittelsbach zusammen. Er war, wie Max Braubach anschaulich und detailliert beschreibt, völlig außer sich über diesen Verlust. Er machte seinen Ersten Minister für den Tod des Komturs verantwortlich und entband ihn nicht nur aller seiner Ämter, sondern ließ auch das Plettenbergsche Schloss Nordkirchen bei Münster mit Truppen besetzen. Der Graf floh nach Wien. Aber das Glück hatte ihn verlassen. Eine Weile konnte er noch als kaiserlicher Kommissar in Köln gegen seinen ehemaligen Herrn wirken, doch dann wartete er vergebens auf eine seinen Fähigkeiten angemessene Tätigkeit am Kaiserhof. Endlich, im Mai 1737, fand man ihn mit dem Posten eines Gesandten beim Vatikan ab. Bei den Vorbereitungen zur Abreise starb Graf Ferdinand von Plettenberg 46jährig in Wien. Man redete von Gift. Wir heutigen halten durchaus für möglich, dass ein derartig "arbeitsamer und arbeitsfreudiger" Mann bei anhaltender Frustration einem Infarkt erliegt.

Siebte Szene: Der alte Ratsherr

Geschichte ist multikausal, manchmal bis zum Absurden. Matthias Rübsam hätte das in seiner Lebenszeit genauso studieren können wie wir heute. Sicher hat er den Tod seines Hündgens nie vergessen. Ob er sich einen neuen kleinen Begleiter anschaffte? Die vorhandenen Nachrichten erlauben mir nicht, das zu entscheiden. Möglich, dass in den sechs Jahren, die ihm zu leben noch vergönnt waren, eine gewisse Melancholie vorherrschte. Möglich aber auch, dass er sich bescheiden lernte, dass er weniger arbeitete und seine Zeit gern den vier Enkelkindern namens Paffrath und den vieren namens Mering widmete. Mit den Paffrathkindern konnte ein Großvater schon etwas anfangen: 1732 war Matthias elf Jahre alt, die muntere Anna Catharina neun, Maria Gertrudis sieben und Caspar Friedrich fünf Jahre, Henricus Matthias und Matthias Henricus von Mering waren hingegen 1732 noch Kleinkinder, Franz Caspar und Matthias Melchior kamen erst 1733 und 1735 auf die Welt. Die neue Muße könnte dem alten Mann erlaubt haben, seine geistliche Tochter im Kloster Niederwerth zu besuchen. Jedenfalls war er nach 1732 nie mehr Bürgermeister. Aber an den Ratssitzungen hat er weiter fleißig teilgenommen, bis wenige Tage vor seinem Tod am 26. August 1738. Auch Syndicus Apostolicus des Franziskanerklosters war er bis zuletzt.

Matthias konnte beobachten, dass sich an der Nettebrücke auch unter den Nuppeneys nichts änderte. Der Calvinist Diederich Lutz blieb Brückenwirt, nahm von kölnischen und trierischen Passanten gleicherweis ein oder zwei Petermänger für Schaf und Schwein, Pferd und Ochs, und verlangte vom armen jüdischen Händler, der keinen Geleitschein bezahlen konnte, vier oder gar fünf Petermänger. Der neue Landzöllner hatte den Untergebenen zwar streng verwarnt wegen seines Umgangs, aber es ließ sich nicht verhindern, dass ein so einsam gelegenes Haus leichtsinnige Frauenzimmer und "Holzspitzbuben" anzog. Matthias beobachtete amüsiert, wie Servatius Nuppeney und auch sein persönlicher Freund Richard Doetsch die Andernacher Fuhrleute verhörten, um über kurtrierische Brückengelder einst und jetzt dem Bonner Hof Auskunft zu verschaffen. Ihn, den alten Mann, ging das nichts mehr an. Er kaufte Grundstücke und Weingärten und rundete seinen Besitz ab. Seine Frau Ignatia war gesund und beliebt. Vielleicht begleitete er sie manchmal nach Rheinbrohl zu ihrer Verwandtschaft. Das Vertrauen zu ihm hatte nicht gelitten. Der Domherr Heinrich von Mering, der am 7. November 1733 sein erstes der erhaltenen Testamente abfasste, erwähnt seinen Freund Matthias Rübsam mit allen Zeichen der Hochachtung, setzt ihn zum Wohl der gemeinsamen Nachkommen als Testamentsvollstrecker ein und vermacht ihm sein persönliches Trinkgefäß, einen vergoldeten Silberbecher.

Im Mai 1733, zwei Monate nach der Geburt seines Enkelkindes Franz Caspar von Mering, über den wir Merings in Deutschland von Matthias Rübsam abstammen, und zwei Monate vor dem Tod seines Patenkindes, des dreijährigen Matthias Henricus von Mering, redeten die Ratsherren in Andernach über ein Duell in Bonn: der junge Beverförde, ein Großneffe des Grafen von Plettenberg, hat den Komtur von Roll getötet, den Günstling des Erzbischofs von Köln. Und die alten Schöffen reimten es sich zusammen, als vier Monate später der Graf alle seine Ämter im Kurstaat verlor: Der Erzbischof hat den Plettenberg bestraft, weil er ihn für schuldig hielt am Tod seines Favoriten. Unser Vorfahr hätte wohl seufzen können! Unwillkürlich hätte er sich an seine Gefühle nach dem Tod des Hündgens erinnert, an das verzweifelte Verlangen nach Satisfaktion, das so leicht zu ungerechtem Zorn führt. Erst nach einer ganzen Weile mag ihm aufgefallen sein, dass der Streit ums Nettebrückengeld ruhte.

Der Polnische Erbfolgekrieg mit der Besetzung des Niederstifts von Trier durch die Franzosen und den Winterquartieren der Reichsarmee am Rhein war auch für Andernach beunruhigend. Immerhin gab es keine Kampfhandlungen in der Gegend. Im Frühjahr 1735 ist Maria Gertrude, Matthias’ Tochter, genannt von Mering, wieder schwanger. Im Sommer stirbt der Domherr Heinrich von Mering. Matthias Rübsam gehört zu den Testamentsvollstreckern und erbt hundert Reichstaler. Sein Schwiegersohn Friedrich von Mering wird Patron der Familienstiftung am Kreuzberg bei Wipperfürth. Und im Oktober steht der alte Bürgermeister und Ritterschöffe noch einmal Pate: bei seinem Enkel Matthias Melchior von Mering. Mitpatin ist die "praetorissa" Gertrude Nuppeney, die zweite Frau des Schultheißen und neuen Landzöllners. Im gleichen Monat wird Friede zwischen Frankreich und dem Reich. Vom Grafen von Plettenberg hört man erzählen, dass er in Wien sei. Aber das erwünschte Amt des Reichsvizekanzlers hat er nicht bekommen.

1736 musste Matthias seine älteste Tochter Elisabeth Rübsam, genannt Paffrath, erst 40 Jahre alt, in seiner Familiengruft bei den Franziskanern beisetzen lassen. Mit welchen Gefühlen er 1737 die Nachricht vom plötzlichen Tod des Grafen von Plettenberg aufnahm, ist schwer zu sagen. Er mag den charmanten jungen Mann bewundert haben zur Zeit von dessen Machtfülle im Kurfürstentum, er mag sich ihm widerstrebend gefügt haben nach dem Tod des Hündgens, nun kann er ihn herzlich bedauern. Ihrer beider Schicksal hat sich berührt. Vielleicht überwiegt zuletzt bei dem alten Mann die Genugtuung, den allzu selbstsicheren Jungen überlebt zu haben.

Nachspiel

Am 10. April 1738, "nach dem Krieg", ein Jahr nach dem Tod des Grafen von Plettenberg, nehmen die trierischen Kanzler, Geheim- und Hofräte vom Ehrenbreitstein aus die Frage des Nettebrückengeldes wieder auf. Sie schicken die Kopie ihres Briefes vom 16. September 1732 samt allen Beilagen an das Domkapitel in Köln und weisen höflich darauf hin, dass dieser Brief noch unbeantwortet sei. Der neue Premierminister Carl Caspar Behren ist nicht so selbstherrlich wie der Graf von Plettenberg damals. Behren konferiert mit den Domherren, zu denen Heinrich von Mering nun nicht mehr zählt, er schickt die Schreiben nach Bonn an den erzbischöflichen Hof. Matthias Rübsam wird das nicht mehr erfahren, denn er ist sicher nicht mehr Delegierter beim Landtag. Diesmal nimmt sich die kurkölnische Regierung viel Zeit, um gründlich zu antworten. In den erzbischöflichen Archiven wird gegraben, Kopien alter Verordnungen von 1712 und 1713 werden hergestellt. Bis die kölnische Regierung am 21. Februar 1739 schließlich den Bürgermeister von Andernach um Auskunft zur Person des jetzigen Brückenwirts bittet, ist Matthias Rübsam schon gestorben und in seiner Gruft bei den Franziskanern beigesetzt. Auf dem Bürgermeisterstuhl sitzt sein Schwiegersohn Caspar Paffrath. Aus dessen Antwort vom 20. 5. 1739 nach Bonn lese ich, dass sich seit dem tödlichen Schuss am 13. Februar 1732 im Nettebrückenhaus nichts geändert hat. Der Brückenwirt ist weiterhin Thiederich Lotz, Calvinist aus Dierdorf, der Ruf des Hauses ist nach wie vor zweifelhaft, "einige liederliche Weibspersonen" und "herumbschweifende Gesellen" hat man nächtlicherweile dort angetroffen, doch hat man dem Wirt auch jetzt noch keinen Gesetzesbruch nachweisen können und von seinen sechs Kindern sind inzwischen vier römisch-katholisch geworden.

Am 16. Mai 1740 setzt ein gnädigstes Handschreiben des Erzbischofs von Köln an den Rat von Andernach einen vorläufigen Schlusspunkt unter die Geschichte vom Hündgen:

Aktenzitat: "Von Gottes Gnaden Clement August Ertzbischoff zu Cölln des Heyl. Röm. Reichs durch Italien ErtzCantzler undt Churfürst pp.

Unsern gnädigen Gruß zuvor, Würdig und Edle Liebe andächtige: Wir haben deroselben schreiben vom 5.ten Januar fließenden jahres sambt anlagen, die Nettenbrück oben andernach und dabey erhebenden Brückengelds wie auch daselbst angelegenen haußes halber wohl erhalten, und darauf demjenigen /: was bey vormahliger administration in den Jahren 1712 und 1713 alß dieses wurde angefangen, das Brückengeld eingeführt, und alles zum stande gebracht worden :/ vorgangen ist, nachsehen laßen, und wie aus denen anlagen sub No. 1 et 2do ersehnlich ist dermahlen sicheren Michaelen Assenmacher die behaußung dahin zu erbauen erlaubt welcher dan auch Zuer einnahme des Brückengelds bestellet worden, und alß die Stadt Andernach die mit der Zeit daraus erfolgende und nunmehro sich äußerende unheylen vorsehend, denen sich wiedersetzet, ist selbigen ein schaffer verweiß dessentselben gegeben worden, gleich den anlang sub N. 3tio breiter nachführet; alß sehen wir nicht, wie sothanes Hauß, welches ex concessione mit Kosten dahin gestellet worden, nunmehro niedergelegt, den erbaueren oder dessen nachfolgeren entzogen, undt selbige contra fidem publicam in schaden gesetzt werden mögen, wir schließen indessen dasjenige zur nachricht hierbey, was unser Hoffrath am 23.ten Februarii 1739 an die churtrierische Regierung dieses Geschäffts halber antwortlich ertheilt hat. Denen wir mit gnädig geneigtem willen und allen guten wohl beygethan verbleiben. Geben Bonn den 16.ten Mayi 1740 :/:

Aus sonderbahrem Ihro Churf. Dlt. Gnädigem befelch.

Pt. F.J. Godesberg"

Nachspiel, Fortsetzung: Das ist ein sehr beachtlicher Text. Die "vormahlige administration" ist das Domkapitel von Köln, das während des Exils von Erzbischof Joseph Clemens vertretungsweise das Kurfürstentum regierte. Darin hatte der Kirchenjurist und Priesterherr Heinrich von Mering Sitz und Stimme. Das Domkapitel hat 1712 die Nettebrücke erneuert und 1713 die Behausung durch Michael Assenmacher erbauen lassen. Die Stadt Andernach hat durch ein Schreiben des Schultheißen Servatius Nuppeney damals gleich protestiert, weil sie das sich jetzt äußernde Unheil vorhersah, aber sie hat einen scharfen Verweis bekommen. Nun ist es zu spät. Man kann den Nachfolgern des Erbauers, die nun unter Nuppeneyscher Aufsicht stehen, nicht ihr Eigentum entziehen, ohne das öffentliche Vertrauen ins Recht zu zerstören. Deswegen kann man nur die Folgen mildern, wie der Hofrat es schon am 23. Februar vergangenen Jahres vorgeschlagen hat. In diesem Brief des Hofrates an die trierische Regierung heißt es:

Aktenzitat: " … umb jedoch Unseren Hoch- und VielgeEhrten herren thätlich zu bezeugen, daß alles freund-Nachbahrliches vernehmen zu unterhalten, und mehreres zu befürderen Wir beständig geneigt seyen, wollen wir verfügen, daß die am weißen Thurm und in dasiger gegend wohnende Churtrierische unterthanen, welche ihres ackerbaues oder sonstiger betreib- und gewerbs halber dieser Brücken gebrauchen:/ allerdings freygelaßen werden sollen … " sowie auch: "Wir wollen aber die versprechung thun, daß fals jetziger einwöhner übelen verhaltens halber überwiesen, oder jedoch einiger bößer verdacht gegen selbigen dargethan werden können, er außgewiesen, und sothanes Hauß durch guthe tüchtige leuthe bewohnt werden solle."

Nachspiel, Schluss: Diese kompromissbereiten Texte finden sich ganz am Ende der Akte Nr. 1437 im Bestand 2 des Landeshauptarchivs Koblenz. Sie sollen sichtlich einen Schlussstrich ziehen, eine praktikable Lösung bieten. Doch der rätselvolle Blick der Muse Clio schaut die Familienforscherin gerade aus dem allerletzten Brief der Akte an: neunzehn Jahre nach diesem gnädigsten Handschreiben des Erzbischofs klagt die Trierer Regierung erneut über das Nettebrückengeld in wörtlich den gleichen Wendungen, mit denen sie all die Jahre vorher darüber geklagt hat. Der Domherr Heinrich von Mering, der Graf Ferdinand von Plettenberg und auch unser Vorfahr Matthias Rübsam sind schon lange tot. Das lange Leben des Kurfürsten Clemens August neigt sich bereits zum Ende. Doch zwischen Trier und Bonn wird immer noch oder schon wieder um das Nettebrückengeld gestritten. Hat man die Akte also deswegen aufgehoben?