Wie oft habe ich bedauert, dass unsere Großmutter Edith Liebert, geb. Behn, die Geschichten, die sie mir so gern erzählte, nicht selbst aufgeschrieben hatte! Was mir im Gedächtnis blieb, war der "plot", die Anekdote, hingegen vergaß oder verwechselte ich Personennamen, Orte und Zeitangaben. Und plötzlich waren sie da, die Aufzeichnungen, gefunden im Nachlass meiner Tante, die davon vielleicht selbst nicht mehr wusste.
"Familienplaudereien" hat meine Großmutter ihre Erzählungen genannt. Sie hebt diesen Titel ab gegen eine "Chronik", weil sie meint, die könne sie nicht geben. Anscheinend hatte sie außer einer Familienbibel keine Hilfsmittel zur Verfügung. Sie musste sich auf ihr Gedächtnis verlassen, verbürgt sich aber für ihre erzählerische Wahrhaftigkeit. Da die DIN-A-4-Hefte, die sie benutzt, schwer zu beschaffen sind im Kriegsjahr 1943 und die von ihr geliebten Stahlfedern überhaupt nicht zu bekommen, muss sie flüssig schreiben, ohne Kladde oder Konzept, "als trauriger Ritter vom Stegreif", wie sie selbst das nennt.
So ist ein ganz eigenartiger Text entstanden. Wie eine Girlande windet er sich durch die Generationen, die Familienorte, die Ereignisse. Meistens beruft sie sich auf Erzählungen ihrer Mutter, flicht eigene Erinnerungen ein, erwähnt Daten aus der Familienbibel, an die sie sich gar nicht erinnert. Sie schreibt für ihre fernen Töchter. Sie schreibt an gegen ihre Angst im bombenbedrohten Marburg, gegen ihre Traurigkeit im beginnenden Alter, gegen den überall spürbaren Mangel der Kriegswirtschaft. Sie vergewissert sich noch einmal der Liebe ihrer verstorbenen Eltern.
So erzählt sie als Pädagogin vom gelungenen und gescheiterten Leben der Vorfahren. Ich werde von ihren Texten profitieren.