Immer wenn ich auf Reisen bin, besinne ich mich auf die Familienlandschaften. An der Loire ist Francoise Henry gestorben, geborene Blandin aus Saarlouis. 1818 war das, und sie war erst 36 Jahre alt. Ob ihr Mann Pierre Henry, der lothringische Bauernsohn, inzwischen pensionierter französischer Offizier, sie dahin bestellt hatte? Wollte sie Geld von ihm für ihre beiden lebenden Kinder? In Saarlouis haben die Eltern Blandin gelebt, jedenfalls einen wichtigen und letzten Teil ihres Lebens, dazwischen waren sie in Kremsier in Mähren – da bin ich noch nie gewesen. Die Großeltern mütterlicherseits von Francoise hießen Barbe, waren Bauern und stammten aus Boucheporn bei Metz. Da war ich einmal und habe die ernsten Gehöfte bestaunt. Sie waren bestimmt Lothringer – aber was heißt das schon, das Dorf heißt Buschborn, das nächste Obervisse, die mütterlichen Familien hatten deutsche Namen, Albrecht, Kiefer. Immer wenn ich aus Frankreich zurück nach Deutschland komme, berühre ich dieses Länderdreieck Lothringen-Saarland-Luxemburg und denke an diese Vorfahren meines Vaters, ihre katholische Konfession und ihren starken Dialekt.
Wenn wir uns dann dem Rhein nähern, kommen wir durch die Vulkaneifel. Die Familienorte heißen Mayen, Ochtendung, Niederzissen, Polch. Aus diesen Orten stammen die Rübsams, Pächter auf ehemaligen Adels- oder Klosterhöfen, stolze, sture Leute, für damalige Verhältnisse reich, mit strengen Heiratssitten, die auf den Erhalt der Höfe ausgerichtet waren. Immer wieder brauchten sie kirchlichen Dispens, weil schon wieder ein Vetter eine Kusine heiratete, damit das Geld beieinander blieb. Ihr Geld kam schließlich durch wohl arrangierte Heirat in die Hände der von Merings aus Köln – dann ging es in der französischen Revolution unter. Auch das sind meines Vaters Vorfahren. Das wundert mich immer, denn was ich in seinen Briefen lese, klingt so wenig berechnend. Er wirkt so naiv. Aber diese Härte muss auch in seinen Genen gelegen haben.
Als besonders romantisch von den Hunsrückorten erscheint mir immer der Ort Kirn. Auf der Burgruine sind Franz und ich an einem schönen Sommertag herumgeklettert, ich habe sogar den Stadtarchivar angerufen und um Nachricht von meinem Vorfahren gebeten. Der „Achtbare und Kunstreiche Johann Albrecht Zeisser, gewesener Feld Trompeter der Reingräfflichen Herrschafft auf Kyr Burg und Bürger zu Kyrn“ ist zwar kein leiblicher Vorfahr, sondern nur der zweite Schwiegervater einer Vorfahrin, aber er ist ein gutes Beispiel für die Durchmischung der Bevölkerung nach dem 30jährigen Krieg. Der Sohn dieses Trompeters wird Sattler und heiratet 1672 in Dippoldiswalde bei Dresden unsere Vorfahrin Dorothea Lehmann, verwitwete Bercht. Er zieht seine Stieftochter Anna Elisabeth Bercht auf und verheiratet sie an den Sattler Christoph Liebscher, dessen Herkunft immer noch dunkel ist.
Am Rhein häufen sich die Familienorte. Noch ziemlich im Süden liegt Kaub, dort war die Schifferfamilie Kümpel zu Hause, mehrere Generationen, die Schiffe besaßen und mit ihnen den Rhein auf und abfuhren als Beförderer von Waren.
Adam Kümpel ist einer von ihnen. Er zahlt 1741 und 1746 Zoll beim Rheinzöllner Friedrich von Mering in Andernach, einem Vorfahren aus Köln. Andernach und Köln, zwei Städte mit starkem familiengeschichtlichem Boden! In der Franziskanerkirche in Andernach ruhen Vorfahren, und im Dom zu Köln die beiden geistlichen Domherren der Merings. Wipperfürth im Bergischen Land gehört dazu, kurkölnischer Besitz und Heimat einer Bürgermeisterstochter, die Dr. Theodor Mering heiratet. Aber auch Speyer, Mainz, Bacharach und Koblenz haben das Leben mancher meiner Vorfahren stark bestimmt. Ganz in die Nähe von Venlo, wo das Rheintal sich schon den Niederlanden zuwendet, hat es meinen Ururgroßvater Franz Mering verschlagen – als preußischen Grenzaufseher in Herongen von 1842 bis 1856. Er ist der, der alle seine Kinder ein Handwerk lernen ließ und dadurch den Niedergang der Familie bremste.
Sonst habe ich im Norden nichts zu suchen. Coesfeld in Westfalen ist der nördlichste Punkt, der früheste Herkunftsort der Merincks. Es empfiehlt sich deswegen, zum Aufsuchen von Familienlandschaften weiter südlich nach Osten zu reisen, südlich des Harzes über die Handwerkerstadt Artern, aus der Glaser und Bäcker stammen, nach Sangerhausen und dann weiter nach Eisleben ins Mansfelder Land, wo sich wieder ein dichter Familienknoten findet. Hier kann fast jedes Dorf von Vorfahren erzählen! Und hier schlägt die Landesgeschichte eine ganz andere Saite meiner Gene und Meme an. Hier bin ich seit der Reformation evangelisch. Potsdam, Brandenburg und Kemberg liegen nördlicher, gehören aber dazu, deutlich kühler, fast abgelegen, ebenso wie Berlin, wo manche Vorfahren ungern wohnten, aber dann geht es über Dippoldiswalde nach Schlesien hinüber und über Guhrau in Niederschlesien (Bezirk Breslau) hinaus nach Großpolen.
In Großpolen ist es im 17. und 18. Jahrhundert die polnische Adelsfamilie Leszynski, die in ihren Städten Leszno und Kobylin meinen aus des Habsburgischen Kaisers Land fliehenden protestantischen Vorfahren Unterkunft und Sicherheit bietet. Aus Böhmen kommen mit Jan Comenius die Zytowskis und die Nitsches, aus dem nahen Niederschlesien die Familien Liebert, Schurtzmann, Schade und Kammer. Obwohl sie dort so lange miteinander und mit den polnischen Einwohnern zusammen lebten, blieben sie hartnäckig evangelisch und deutschsprachig – und ich meine , ich fühle in meiner ständig gereizten Reiseseele diese fort und fort währende Spannung. Ich werde dort leicht krank.
Das gleiche gilt für Bromberg und Thorn. So schön diese Städte sind, besonders das zauberhafte Thorn, mein Mann wunderte sich über meine ständige Aufgeregtheit. Seit dem 14. Jahrhundert haben Vorfahren in Torun gewohnt, schon zu Zeiten des Deutschen Ordens – sie waren vermutlich keine Flüchtlinge, eher Auswanderer und Eroberer fremder Gebiete – Hammermeister, Gerber und Kaufleute – später mögen Glaubensflüchtlinge die Kolonie vergrößert haben. Das wunderschöne Zunftbuch der Rotgerber von Thorn-Neustadt,1626 angefangen, erzählt Familiengeschichte. Lange haben sie sich durchgesetzt, auch mit Gewalt – und schließlich doch verloren. Ein ähnliches Gefühl kenne ich aus Kopenhagen, wo eine Vorfahrenfamilie während der Napoleonischen Kriege für 12 Jahre Unterschlupf fand.
Den Kreis Neidenburg, Rastenburg und Königsberg habe ich nie gesehen. Aber auch dort habe ich Wurzeln.
Heute wohne ich in Schleswig-Holstein, wo nie Vorfahren wohnten. Um zu forschen, muss ich reisen. Das ist vielleicht ganz vernünftig!