Die Thornerinnen

Fünf Generationen Frauen aus Toruñ in Polen, jeweils Mutter und Tochter, sind unsere Vorfahrinnen. Sie waren „Wohnpolen“, Staatsbürger des Königreichs Polen, aber von deutscher Sprache und evangelisch-lutherischer Konfession. Sie haben sich niemals integriert, obwohl sie sicher Polnisch verstanden.

Die letzte unserer Vorfahrinnen aus Toruñ ist Anna Sophia Hirschberger, getauft im Januar 1770 in der evangelischen Kirche der Thorner Neustadt. Sie heiratet etwa 1797 nach der letzten Teilung von Polen den preußischen Feldscher Johann Gottfried Behn und zieht mit ihm nach Bromberg. Mit ihr endet unsere Thorner Vorfahrenkette. Ihre Brüder und Neffen sind aber noch mindestens bis 1840 in Thorn nachweisbar. Doch hat unser Urgroßvater Hermann Behn 1886 dort keine Verwandtenbesuche mehr gemacht. Ihm wird ja ein schlechter Familiensinn nachgesagt – aber hätte er, auch bei bestem Willen, in des „Kaisers Rock“ Gerber und Kupferschmiede als Vettern 3. Grades begrüßen können?

Anna Sophia Hirschbergers Mutter ist Anna Dorothea Hirschberger, geborene Springsgut. Sie ist am 26. Mai 1744 in der evangelischen Kirche von Thorn-Neustadt getauft worden und hat sich am 18. Februar 1762 dort verheiratet. Sie erlebte die Politischen Wirren und kriegerischen Auseinandersetzungen vom Siebenjährigen Krieg bis zur Ersten Polnischen Teilung. Ihr Mann war als Kupferschmiedegeselle aus Pirna/Sachsen zugewandert und Bürger und Meister geworden.

Deren Mutter war Dorothea Springsgut, geborene Wentzel. Sie ist am 30. Mai 1720 in Thorn-Neustadt getauft, hat am 28. Mai 1743 dort geheiratet und ist am 30. Dezember 1759 auch im Gewölbe des evangelischen Friedhofs bei der Katharinenkirche beigesetzt worden. Als sie Kind war, fand 1724 in der Altstadt von Thorn das „Thorner Blutgericht“ statt. Zehn Ratsherren Thorns, unter ihnen der alte Bürgermeister Johann Gottfried Roesner, wurden öffentlich auf dem Altstadtmarkt enthauptet. Sie wurden verantwortlich gemacht für den „Thorner Religionstumult“, Ausschreitungen der evangelischen Schüler und Lehrlinge gegen die Fronleichnams-Prozession der Jesuiten. Am Haus des hingerichteten Bürgermeisters Roesner steht heute: hingerichtet nach Rechtsspruch von königlichem Gericht. Der König war August der Starke.

Die Mutter von Dorothea Wentzel war Maria Wentzel, geborene Deutschmann. Sie ist am 9. Juli 1696 in der Thorner Neustädtischen Kirche getauft und am 5. Dezember 1775 in Thorn verstorben. Am 27. September 1714 ist sie in der Neustädtischen Kirche getraut worden. In ihre Kindheit und Jugend fällt der Nordische Krieg 1703 – 1710, die Belagerung und Besetzung Thorns durch Karl XII. von Schweden, die Pestepidemien von 1708 und 1710.

Marias Mutter war Anna Deutzmann oder Deutschmann, geborene Wachschlager. Sie muss zwischen 1655 und 1668 in Thorn geboren sein, gestorben ist sie am 2. April 1702 in der Thorner Neustadt und bei der Katharinenkirche im Gewölbe beigesetzt worden. Sie hat am 6. Februar 1685 in Thorn geheiratet. Als Kind muss sie miterlebt haben, wie die gotische Backsteinkirche St. Jakobus 1668 wieder katholisch wurde und wie die evangelische Gemeinde sich den Rathaussaal der Neustadt zur Kirche umbaute. Dies interessante Gebäude mit der Doppelfunktion evangelische Kirche und Rathaus fiel später den Napoleonischen Kriegen zum Opfer. Heute steht an seiner Stelle ein nüchternes Bethaus, dass 1824 gebaut wurde.

Den Namen von Annas Mutter kenne ich nicht. Auch von Anna Wachschlagers Vater weiß ich wenig. Dieser Johann Wachschlager war schon verstorben, als Anna heiratete. Dass er als Brauer das Bürgerrecht erwarb, lese ich bei Adolf Semrau, abgeschrieben auf der Internetseite Heim@Thorn. Im Kirchenbuch machen sich Michael und George, Lorenz und Daniel Wachschlager breit, Daniel wird sogar Bürgermeister. Die Wachschlagers sind seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in Thorn, im Schöffenbuch bezeugt. Von Johannes gibt es offenbar wenig zu melden. So ist auch seine Trauung nicht vermerkt und nicht Annas Taufe. Dass er Mitglied der großen alten Patriziersippe ist, steht aber fest, am 20. September 1655, mitten im Schwedischen Krieg, vertritt er als Pate den „Herrn Daniel Wachschlager“, der offenbar verhindert ist. Es wird das Kind der Thornerin Lucia Zimmermannin mit einem schwedischen Soldaten getauft: da muss ein hochrangiger Pate her, denn der Vater Hans Flatau wird als Soldat in schwedischen Diensten kaum für den kleinen Sohn sorgen können.

Damit bin ich beim Thema: die Thornerinnen. Unsere Vorfahrinnen gehörten wie diese Lucia Zimmermannin zur deutschsprachigen evangelischen Minderheit in Thorn-Neustadt. Sie wurden dort geboren, wuchsen auf, gebaren Kinder und starben dort. Ihre Väter und ihre Männer waren nicht immer aus Thorn, ihre Brüder verließen manchmal die Stadt, um anderswo ihr Glück zu versuchen: dank der Erziehung durch ihre Mütter waren die evangelischen Thornerinnen streng konfessionell, häuslich und heimatverbunden. Die Stadt war ihr Horizont. Dafür nahmen sie manches Leid in Kauf.

Anna Wachschlagers Mann Johann Deutzschmann war kein Patrizier. Zwar gibt es schon im 30jährigen Krieg einen Adam Deutschman im Kirchenbuch und später einen Johann Deutschmann selig mit Frau Dorothea, doch gehören sie nicht zu den Ratsfamilien. Johann rühmte sich später der vornehmen Abkunft seiner beiden Frauen, von denen Anna die erste war. Nach Annas frühem Tod heiratete er nämlich Maria, eine geborene Strewig oder Streibig. Die Strewigs gehörten wie die Wachschlager zu den Familien aus Deutschordenszeiten. Auch sie waren Ratsverwandte. Mit seinen beiden Frauen hat Johann Deutzschmann seinen sozialen Aufstieg unterstrichen, vielleicht sogar bewirkt. Er selbst scheint ein kluger streitlustiger Gesell gewesen zu sein. Über ihn werde ich noch gesondert erzählen.

Anna Wachschlager, Johanns erste Frau, starb nach fünf Geburten, aber nicht an einer Geburt. Vielleicht war sie älter als Johann gewesen – das kommt öfter vor in diesen Handwerkerfamilien. Wichtig war nicht ihre Jugend, sondern ihr Kapital. Das brauchte der Mann für die Meisterprüfung und für die Einrichtung einer Werkstatt. Johann Deutzschmann war Rotgerber, d.h. er gerbte dunkles Leder – Rind, Schaf und Wild – mit Eichenlohe. Und im Rotgerberzunftbuch ist nicht die Rede davon, dass er Gerberssohn war, also eine Werkstatt erbte.

In der Neustadt von Thorn haben die Deutzschmanns bestimmt in der heutigen Wielki oder Mały Garbary, der Großen oder Kleinen Gerberstraße, gewohnt. Diese Straßen grenzen direkt an den „Bach“, wie das Flüsschen auch heute noch heißt. Es fließt vorbei an der alten Lohmühle – seit 2008 ein feines Hotel – unter der Stadtmauer durch in die Weichsel. Zwei gewaltige Türme schützen diese Schwachstelle in der Mauer. Diese Türme zum Schutz des nützlichen Wassers haben schon die Ordensritter bauen lassen, als sie 1264 die Neustadt neben ihrer Burg gründeten. Und die Stadtmauer an der Lohmühle bessern die Gerber aus unter ihrem Eltermann Paul Springsguth, unserem Vorfahren, um 1755.

Die Deutschmanns wohnten in der Gerberstraße mit ihren Zunftgenossen, die alle Wasser brauchten. Gerberviertel stinken: nach den Häuten, nach der Lohe. Das musste Anna hinnehmen. Aber Gerber wurden oft reich. Das ist auch Johann Deutzschmann gewesen, reich, selbstbewusst und eigenwillig. So liest man es im Gerberzunftbuch. Wie Anna damit zurecht kam, ist nicht überliefert. Vielleicht war sie es von zu Hause feiner gewohnt. Wonach und von wem entschieden wurde, dass sie Johann nehmen sollte, wissen wir nicht. Aber das Unternehmerische an ihm mag sie als Tochter aus Kaufmannsgeschlecht zu schätzen gewusst haben.

Anna erlebt, dass 1697 August II. von Sachsen König von Polen wird. Er wird später der Starke genannt. Zuerst einmal ist er der Gerissene: er wird katholisch, um für die polnischen Adligen wählbar zu sein. Wie das Anna Deutschmann, der im katholischen Lande treu und stur evangelisch Bleibenden, gefallen hat, kann ich nicht wissen. Ehe die Deutschstämmigen in Thorn entscheiden, ob es gut oder schlecht ist, 1702, stirbt Anna Deutschmann, geborene Wachschlager. Und Johann Deutschmann heiratet sofort zum zweiten Mal.

Maria Wentzel war 1702 Witwe. Sie hatte 1685 als Jungfrau Maria Streibig oder Strewig den Witwer Peter Wentzel geheiratet, den Hammermeister aus Leibitz. An der Drwenze in Leibitz oder Leibitsch, heute Lubics, war der Kupferhammer. Peter hatte aus erster Ehe schon erwachsene Söhne. Sie gebar ihm noch fünf Kinder dazu. Und auch von Johann Deutzschmann hatte sie noch Kinder. Sie war nacheinander Fleischerstochter, Kupferschmiede- und Rotgerberfrau. Ein Handwerksbetrieb war ihr vertraut und auch ihre Rolle darin: die Kunden an der Tür, die Lehrlinge und Gesellen am Tisch. Sie muss eine tüchtige und beliebte Person gewesen sein, viele baten sie zur Gevatterin, schon als Maria Wentzel und dann als Maria Deutschmann.

Von ihr gibt es im Zunftbuch eine Geschichte: Beim Meisterquartal am 11. August 1704 wird gemeldet, „daß in diesem Buch etliche Blätter sind verklebet worden, niemand anderes aber als Johann Deutschmann das buch bey sich gehabet, worauf er geantwortet er wüßte von der Sache gar nichts, er hette es zwar auf dem Fenster liegen laßen. Ob etwan seine Frau darüber kommen undt es verklebet, wehr Ihm unwißent, darauf E. Ehrb. gesprochen: daß buch wehre Ihm als einem Eltermann vertraut undt nicht der Fraun, erkannte Ihm als Straffe 12 gr. Weil Er aber umb Gnade gebetten ist ihm 6 gr. zurückgegeben.“ War die Entschuldigung des Gerbers Johann glaubwürdig? Das würde bedeuten, dass Maria lesen konnte. Nur dann gibt es Sinn, dass sie neugierig im Zunftbuch blättert, vielleicht mit vom Brotteig klebrigen Händen. Ich habe dies ledergebundene edle Buch von 1626 selbst in Händen gehabt. Verklebte Seiten habe ich nicht gefunden. Offenbar hat eine Ehrbare Zunft 1704 für 6 Groschen die Seiten reinigen lassen!

Maria Streibig, verwitwete Wentzel, verheiratete Deutschmann bringt sicher ihre Kinder erster Ehe mit ins Gerberhaus: Gottfried Wentzel ist erst drei Jahre alt, auch Maria und Dorothea Wentzel sind noch Kinder. Hat sie auch ihren ältesten Sohn Jacob Wentzel mitgebracht aus Leibitz in die Thorner Neustadt, weil er noch zur Schule gehen sollte? Er könnte 1702 zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein. Im Gerberhaus fand sie vor: den 12jährigen Philippus, die neunjährige Anna Dorothea und die sechsjährige Maria Deutschmann. Regina, die 16jährige, hatte der Vater vor dem Einzug der neuen Frau verheiraten lassen an den Rotgerbermeister George Marquard.

Diese Regina Deutschmann, verheiratete Marquard, ist eine besondere Thornerin. Ihr sehr viel älterer erster Mann stirbt 1704, 1711 heiratet sie den jungen Rotgerbermeister George Trüncks. Der übernimmt mit der Heirat die Gerberei, erst nachher macht er sein Meisterstück. Trüncks ist nicht erfolgreich, 1713 hat er Schulden, 1716 wird er zwar noch „Ehrbarer Meister“ genannt und ihm ein junger Meisteranwärter zugewiesen, aber seit 1718 ist er meistens außerhalb von Thorn tätig. 1720 verlässt er Thorn endgültig. 1722 wird festgestellt, dass „Georg Trincksen seine Ehegattin Regina Trincksen nun mehro von Zeit 4 Jahren deserirt“ hat, also ein „Desertor in Matrimonio“ ist. Regina, als echte Deutschman-Tochter, ist entschlossen, die Gerberei mit Hilfe von Gesellen weiterzuführen. Doch ist eine verlassene Frau keine Witwe. Die Zunftartikel sehen diesen Fall nicht vor. Mitglieder der Zunft mögen sogar vermuten, dass ihr Mann in Sayda eine Art Filiale aufgemacht hat, dass also unter seinem Namen zwei Gerbereien laufen, was unzünftig ist. Von daher fühlen sich Gesellen, die bei Regina arbeiten, „unehrlich“. Wie Regina durchhält, wie sie Recht bekommt, wie sie sich später ihrer Enkel freuen darf, das ist eine eigene Geschichte. Sie ist nicht meine Vorfahrin. Aber wenn man von den deutschsprachigen evangelischen Thornerinnen spricht, darf sie nicht fehlen.

Der Junge Jakob Wentzel und das Mädchen Maria Deutschmann sind durch die zweite Ehe von Maria Strewig Geschwister geworden. Vielleicht mochten sie sich sofort leiden. Jacob geht mit 14 oder 15 Jahren in die Kupferschmiedelehre, bei wem, weiß ich nicht, da die Kupferschmiede im Zunftbuch der Metallhandwerke nicht verzeichnet sind. Natürlich muss er wandern als Geselle. Aber im September 1714 ist Hochzeit. Da ist er Kupferschmiedemeister und Bürger.

Warum der Pfarrer bei der Hochzeit der Maria Deutschmann und des Jakob Wentzel am 29. September 1714 ins Kirchenbuch schreibt: „NB. Diese beyde junge Eheleute waren zusammen gebrachte Sünder,“ konnte ich nicht klären. Keins der beiden hatte ein uneheliches Kind. War die Tatsache, dass sie „Wohngeschwister“ waren, d.h. dass die Mutter des Jungen die Stiefmutter des Mädchens war, ein Grund, ihre Ehe zu missbilligen? Sie waren ja gar nicht blutsverwandt. Hat man sie bei Zärtlichkeiten erwischt, die zu weit gingen? Wie auch immer, 38 Jahre dauert ihre Ehe, eine fürs Barock sehr lange Zeit, die Taufen von vier Töchtern und einem Sohn finden sich im Thorner Kirchenbuch, die Taufe eines Sohns ist mir oder dem Schreiber entgangen, dieser Sohn stirbt als Kind. Beide Eheleute sind beliebte Paten, beide erleben die beiden Enkeltöchter Springsgut aus der Ehe ihrer Tochter Dorothea. Enkel von dem Sohn Jacob erlebt Maria allein, als Witwe.

Sie wird sehr alt, 79 Jahre und vier Monate. Hochgeehrt wird sie 1775 in der Familiengruft bei St. Kathrin beigesetzt. Wie alle Hochbetagten muss sie den Tod von Angehörigen bewältigen: 39jährig stirbt ihre Tochter Dorothea, die Frau des Schöffen Springsgut. Ihre einzige Schwiegertochter Anna, geb. Grandemann, stirbt ebenfalls vor Maria. Aber der Sohn und mehrere Enkel leben, und auch sonst umgibt sie eine Wolke von Verwandten und Verschwägerten.

Im Vergleich zu Maria Deutschmanns Leben ist das Leben ihrer Tochter Dorothea Wentzel kurz. Es kommt uns auch schwierig vor. Sie heiratet einen alten Mann. Bei der Eheschließung 1743 ist er bereits 69 Jahre alt. Paul Springsgut war der Sohn eines Losbäckers. Der Vater hatte in den guten Jahren am Ende des 17. Jahrhunderts beschlossen, den Sohn studieren zu lassen. Dann kam der Nordische Krieg, 1703 die Belagerung durch die Schweden, die Brandschatzung, die lange Besatzungszeit, 1708 und 1710 die Pest. Paul hatte offenbar sein Vermögen verloren. Da entschloss er sich relativ spät, als 36jähriger, eine Rotgerberlehre anzufangen, weil die etwa gleichaltrige Meisterswitwe Catharina Zimmer ihm die Gerberei zudachte. 1717 machte er sein Meisterstück auf Kosten der Frau, kurz darauf wurde er Thorner Bürger und heiratete Catharina. In 17jähriger kinderloser Ehe bleibt das Paar zusammen, beide hochangesehen als Paten, Paul Springsgut wird mehrmals Eltermann seiner Zunft, auch Schöffe und Ratsmitglied, ein „Herr“.

Diese Catharina ist auch eine echte Thornerin! Geboren um 1676 als Tochter des Stadtsoldaten George Mentzel, heiratet sie 1694 den Bäckermeister George Ratzibor, einen Witwer mit heranwachsenden Kindern. Der stirbt 1707, 1709 heiratet sie den Witwer Martin Zimmer, einen Rotgerber, der bereits seit 1677 Meister ist. Als Stiefmutter übernimmt sie dessen Kinder, unter ihnen Samuel Zimmer, der schon Rotgerbergeselle ist. Mit ihm tritt sie in Konkurrenz, als ihr Mann 1711 stirbt. Sie will selbst die Werkstatt weiterführen. Dazu verspricht sie Paul Springsgut die Ehe. Leibliche Kinder hatte sie nie.

Als Catharina 1734 stirbt, ist Paul frei, noch einmal zu heiraten. Eilig ist es ihm damit nicht. Erst 1743 wirbt er um die dann 23jährige Dorothea Wentzel. Sie ist nicht nur jung, sie ist auch reich und hat einen ausgezeichneten Thorner Stammbaum. Zwei Mädchen, Anna Dorothea und Christina, werden dem Paar geboren. Sie sind 15 und 13 Jahre alt, als ihre Mutter 1759 stirbt. Aber ihr Vater lebt! Er soll 91 Jahre und sieben Monate alt werden.

Beide Töchter heiraten, die ältere ist unsere Vorfahrin. Dorothea gibt ihr Jawort dem Kupferschmiedemeister Johann Samuel Hirschberger aus Pirna am 18. Februar 1762 in der Neustädtischen Kirche auf dem Markt, die jüngere Christina dem Rotgerbermeister Johann Nicolaus Korn am 6. Februar 1770. Vorher ist der Vater der beiden Mädchen verstorben, am 10. August 1766.

Mit dem Königreich Polen geht es bergab. 1763 ist August III. von Sachsen gestorben. War er auch kein fähiger Herrscher, einen Rest von Ordnung konnte er noch wahren. Jetzt herrschen Unruhe und Unsicherheit, Bandenwesen, marodierende Soldaten aus Russland und Litauen. Der Pfarrer von Grembocin beschreibt die Überfälle auf Mühlen und Gehöfte, die Zerstörungen an Fährschiffen und Brücken. Die Erste Polnische Teilung steht bevor. Das Umland der Stadt wird preußisch. Handel und Wandel kommen zum Erliegen. Thorns Bedeutung ist dahin. Widerwillig wird es 1793 bei der Zweiten Teilung preußisch.

Für unseren Urgroßvater, den kaiserlichen Pionier-Offizier Hermann Behn, ist das schon Geschichte, als er 1886 „mit dem Bataillon“ nach Thorn versetzt wird. Unsere Urgroßmutter Martha „schilderte oft lachend später den Eindruck der ersten Kleinstadt. Wie grundlos schmutzig der Weg gewesen sei, als sie Wohnung suchte, und wie eine ältere Frau, mit einer kleinen Ruthe ihre Puten zusammen in den Garten heimholend, ihr den Weg gewiesen hätte und sich nachher als Offiziersfrau herausstellte. Immer erzählten die Eltern, wie billig die Garnison war, wie reizend der Verkehr, wie eng der Zusammenhalt. Für unendlich wenig Geld bereitete man sich aus Störrogen Kaviar. Krebseessen gab es in Fülle.“ Dass noch Verwandte seiner Großmutter in der Stadt leben, spielt für Hermann und Martha offenbar keine Rolle. Auch für die Schönheit der mittelalterlichen Stadt, die so viele Touristen heute bezaubert, hatten meine Urgroßeltern offenbar kein Gespür. Eher schon für die Hochwassergefährdung an der mächtigen Weichsel. Meine Großmutter Edith schreibt: „Am 27. März 1888 ging Vater nach Elbing mit seiner Kompagnie, um bei einer schweren Überschwemmung der armen Bevölkerung zu helfen. Er zeichnete sich aus und bekam den Adlerorden. Ich weiß auch noch dunkel seine Erzählungen von dem Elend zu erinnern. Schwimmende Bettchen mit Kindern konnten die braven Pioniere oft unter Lebensgefahr bergen.“

Thorn bedeutete der Familie Behn im Deutschen Kaiserreich eine Garnison unter anderen – vorher Stettin an der Oder, nachher Deutz am Rhein. Es war keine Heimat mehr.

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