Beneidenswert?

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Die schöne Anna Behn, verh. Romberg

Sie ist 1845 in Aachen geboren als erstes Kind des Regimentsarztes Behn. Ihre Eltern waren kurz nach der Heirat nach Aachen versetzt worden. Der Vater kam vom Friedrich-Wilhelm-Institut in Berlin und wurde mit dem Pommerschen Infanterie-Regiment Nr. 34 nach Aachen verlegt. Annas Paten – natürlich wurde sie vom evangelischen Militärpfarrer getauft, auch mitten im katholischen Aachen – gehören alle zur Armee. Die geschlossene Welt des Militärs ist besonders geschlossen in diesen Jahren: die Aachener lieben die preußischen Regimenter nicht, die in diesen Vor-Revolutionstagen extra aus Pommern hierherverlegt worden sind. Es gibt Prügeleien zwischen Bevölkerung und Soldaten. Das Regiment wurde noch vor 1849 nach Köln verlegt, wo’s aber wohl auch nicht besser war.

Anna kennt das nicht anders, wächst so heran, in Köln wird 1849 ein Bruder geboren, Friedrich, in Mainz stirbt der an den Masern, in Trier wird 1852 wieder ein Bruder geboren, Hermann. Da geht Anna schon zur Schule. Es wird viel umgezogen. Wie Anna das erlebt, ist nicht bekannt. Auch nicht, wie sie den Tod des Bruders verarbeitet hat, der am 11. 12. 1857 an einer Gehirnentzündung in Folge der Masern starb. Das war doch ein furchtbarer Tod! Freilich, der Regimentsarzt verfügte über Morphium. Ob er es damals auch selbst nahm, um sich zu stabilisieren? Anna wird er nicht davon gegeben haben.

Es ist nicht viel über Anna bekannt – aber man schickt sie sicher zu den jeweiligen Privaten Höheren Töchterschulen, in Trier, in Mainz, in Rastatt, in Posen. Der Vater steigt in der Hierarchie der Militärärzte auf, er verdient verhältnismäßig gut. Vielleicht erlernt sie Klavierspielen, auf jeden Fall Französisch und Englisch. Der Bruder Hermann kommt, soviel ich weiß, mit etwa 11 Jahren auf eine Kadettenanstalt. Von da an ist sie mit der Mutter allein im Haus.

Anna ist jetzt achtzehn, es ist das Jahr 1863. Der Vater ist seit 1861 in Posen als General- und Korpsarzt der V. Armee. Das ist ein verantwortungsvoller Posten. Wissen Anna und ihre Mutter schon, dass der Vater krank ist?

Das Krankenbuchlager Berlin verzeichnet nicht den Ausbruch der Krankheit des Königlich Preußischen Generalarztes Dr. Adolph Gustav Behn. Und die Patienten-Akten der Heilanstalt Brehna bei Halle/Saale habe ich auch nicht gefunden. Nach Eduard Hinze hat die Armee den verdienten Militär „mit Pension und Uniform verabschiedet“ im Jahr 1865. Hat man die Krankheit oder Sucht so lange verheimlichen können? Behn war 1865 fast sechzig Jahre alt, da ist eine Pensionierung durchaus regelhaft. Aber krank war er. Denn die Heilanstalt Brehna bei Halle ist eine geschlossene Irrenanstalt, obwohl vornehm geführt wie ein Hotel. Und Dr. Heinrich Böttger, der Direktor der Heilanstalt, ist als Nervenarzt eine bekannte Forscherpersönlichkeit.

Anna weiß sicher, worum es geht. Wir wissen es nicht. Syphilis oder Morphiumsucht kommen in Frage, aber natürlich auch eine Psychose oder schwere Demenz. Die Krankheit mus so schwer sein, dass Frau und Tochter den Patienten nicht zu Hause pflegen können. Hermann, ihr Bruder, nun 14 Jahre alt, versteht und erlebt davon weniger, da er unter den Kadetten aufwächst. Dass er später ein großer Verdränger wurde, hat seine Tochter, meine Großmutter überliefert. Sein Ruf: „Ich liege auf meinem guten Ohr!“ wenn er Unliebsames nicht hören wollte, ist ein Familienspruch geworden. Von dem Irresein seines Vaters hat er offenbar einfach nicht Kenntnis genommen.

Ein für mich rätselhaftes Ereignis im Jahr 1865 muss auf Annas Leben großen Einfluss gehabt haben.

Potsdam Hof- und Garnisongemeinde Film 0072407

Taufen 1864 - 1870

1865

Eltern: P: Dr. Behn, Generalarzt a.D.

M: Ehefr. Julie Zelter

Männl.: Friedrich Carl Behn, Geburts- u. Tauftag: geb. 6. Oct., get. 2. Nov., Zeugen: Herr Fehringer Kgl. Insp.(offenbar Freund der Familie,Mitschwiegervater von Julies Schwester Marie), Herr Große Kgl. Ober Amtmann (Schwager von Julie), Herr Romberg Assess. d. Kgl. Sternwarte (späterer Mann der schönen Anna, der ältesten Schwester des Täuflings)

Am 2. November 1865 wird in Potsdam noch einmal ein Bruder von Anna getauft. Er heißt Friedrich Carl Behn. Drei Paten gibt es: zwei Schwäger der Mutter und den jungen Astronom Hermann Romberg, Assessor an der Königlichen Sternwarte in Berlin, Annas späteren Mann.

Rätselhaft ist für mich, dass die Eltern von Anna, die ihre Kinder zwischen 1845 und 1852 bekommen haben, 13 Jahre später noch einmal einen Sohn zeugen. Julie war Anfang 1865 zweiundvierzig Jahre alt. Möglich, dass sie dachte, sie könne nicht mehr schwanger werden. Das ist in unserer Familie öfter vorgekommen. Rätselhaft ist es, weil der Vater damals schon „irre“ gewesen sein muss. Oder ist die Zeugung des Kindes der Grund für seine Einweisung in die Heilanstalt? Hat Adolph Gustav seiner Frau Gewalt angetan? Oder – schlimmer – seiner Tochter Anna? Anna ist 1865 20 Jahre alt.

Natürlich ist auch möglich, dass die Mutter den durch die Behandlung gebesserten Ehemann in der Heilanstalt besucht hat und unter der Zärtlichkeit des Wiedersehens das Kind entstanden ist. Wie gesagt, Brehna wurde wie ein Hotel geführt, sehr gediegen. Das Kind kann auch noch in Posen gezeugt, der Umzug nach Potsdam erst später erfolgt sein. Wenn aber Anna die Mutter des Kindes ist, könnte auch der junge Pate Hermann Romberg der Vater des Kindes sein.

Ist das in damaligen Verhältnissen möglich? Hatte er Gelegenheit, Anna allein zu treffen? Er ist Pfarrerssohn aus Bromberg, hat in England seine erste Stelle gehabt, ist jetzt fast dreißig Jahre alt. Vielleicht reicht sein Gehalt nicht zum Heiraten, das junge Paar versucht einen Kurzschluss. Auch das hat es in der Familie ein paar mal gegeben. Aber warum heiraten sie dann nicht schnell vor der Geburt? Warum sollte das Baby als Bruder der jungen Frau gelten? Nein, das ist im Potsdam mit seinen vielen Soldatenkindern doch unwahrscheinlich. Annas Eltern akzeptieren den jungen Mann ja, da sie ihn zum Paten des kleinen Friedrich machen. Und was hat sich im Herbst 1868, als Anna und Hermann dann heiraten, Wesentliches geändert? Hermann ist immer noch nur Assistent an der Sternwarte – und er wird es bis 1872 bleiben. Musste Hermann den Tod seines Vaters abwarten, der gegen eine Verbindung mit den Behns war, weil er aus Bromberg den Onkel Annas, den Bromberger Medizinalrat Julius Behn kannte? Auf jeden Fall kann es nicht an Anna gelegen haben. Hätte sie den Astronomen als Ehegatten abgelehnt, wäre er wohl kaum Pate ihres Bruders geworden.

1868

Nr. 107 Romberg, Carl Hermann Friedrich, Assistent an der Königl. Sternwarte in Berlin, 31 11/12 Jahre alt, evangelisch, Vater Ober-Consistorialrath Dr. Jacob Heinrich Ferdinand Romberg, mit Einwilligung der Mutter, ledig, Braut: Jgfr. Anna Maria Luise Behn hier, 23 3/12 Jahre alt, evangelisch, Vater: Generalarzt Dr. Gustav Adolph Behn hier, verstorben, Einwilligung: Eltern todt, das Obervormundschaftsgericht, ledig, am 4. Octobr. zum I. Male Aufgeboth, auch in der Jerusalemer Kirche zu Berlin cop. am 24. Octobr. 1868

Die beiden haben also drei Jahre später geheiratet und das verwaiste Kleinkind Friedrich in ihren Haushalt aufgenommen. Hermann muss die schöne Anna geliebt haben, denn sie stand ganz allein und war nicht vermögend. Anna bekam gleich 1869 und 1870 in Berlin ihre beiden Töchter Martha und Margarethe, und vielleicht ist auch noch ihr Sohn Henry in Berlin geboren, bevor das Paar 1873 nach Pulkowa bei St. Petersburg zog. Der Sohn könnte allerdings auch in St. Petersburg geboren sein, weil später der Zar für den Vater und den Sohn die Russifizierung angeboten haben soll.

Meine Großmutter sah ihre Tante 1901 („siebzehnjährig“) in Berlin. Damals waren Annas Tochter Margarethe und ihr Sohn Henry noch bei ihr. Henry studierte an der Pépinière, wollte also Arzt werden. Ob er Nachkommen hat? Oder hat der I. Weltkrieg ihn verschluckt?

Anna soll 1914 bis 1918 Verwandte an vier Fronten gehabt haben. Ist das Legende? Nein. Ihr Bruder Hermann, dessen Sohn Felix und dessen Schwiegersohn Paul Liebert kämpften für den Kaiser, der Schwiegersohn Otto Wilhelm Neovius, Margarethes (1870 – 1955) Mann (1867 – 1927), der sich patriotisch Nevanlinna nannte, kämpfte für Finnland, (vielleicht auch schon sein ältester Sohn, der Mathematiker Frijthof Nevanlinna), der Mann der ältesten Tochter Martha (1869 - ?), Theodor Wittram, auf russischer, und der Mann der zweiten Tochter, der Französischlehrer in Lyon, auf französischer Seite. Meine Großmutter fand das ein tragisches Schicksal. Anna war alles andere als beneidenswert. Internationalität in einem nationalen Europa zahlte sich nicht aus.

An Anna Romberg konnte sich meine Mutter aus Berlin besinnen, sie sei noch als alte Frau schön gewesen. Unsere Großmutter Edith gibt davon eine anrührende Beschreibung. War deswegen der Kontakt zu ihrem Bruder Hermann schwierig, dessen Frau Martha wenig schön und sehr eitel war? War sie arm und mied man sie, weil die Behns eine gute Pension hatten? Warum hat meine Großmutter, die doch angeblich sich immer für ihre Familie interessiert hat, nicht selber mit Anna korrespondiert nach dem 1. Weltkrieg? Sie war doch nicht auf die Vermittlung ihres Vaters angewiesen! Oder wollte Anna Behn keinen Kontakt zur Familie? Fragen über Fragen.

Nachkommen Romberg gibt es unter dem Namen Schmidt. Emma Marie Romberg, eine Nichte des Astronomen, heiratete am 8.10.1888 in Bremen den späteren Oberbürgermeister von Erfurt von 1895 – 1919. Das erfuhr ich per e-mail von Jörg Schmidt am 25.8.2007. Nachkommen Wittram gibt es nach Auskunft von Herrn Heinrich Wittram nicht, da der einzige Sohn des Astronomen Theodor Wittram, Eduard, 1915 dreiundzwanzigjährig starb, eine Tochter als Fünfjährige starb und die andere, die älteste, offenbar mit ihrer ganzen Familie Murasch-Kinsky 1942 in St. Petersburg umkam.

Nachkommen der schönen Anna gibt es offenbar nur in Finnland – und da einen ganz ausgezeichneten Enkel, Rolf Nevanlinna, Mathematiker von internationaler Bedeutung, geboren am 22. 10. 1895 in Joensuu, in der schwedischen Sprache aufgezogen, aber die Mutter Margarethe Romberg habe mit den Kindern auch Deutsch gesprochen, finnisch lernten sie durch die Umwelt. Er war Professor in Helsinki, als die Deutschen es besetzten, kooperierte mit den Nazis, musste deshalb nach dem Krieg das Rektorat der Universität aufgeben, aber bekam wegen seiner wissenschaftlichen Bedeutung 1946 eine Stelle an der Universität Zürich, war später sowohl in Zürich als auch in Helsinki tätig, starb erst am 28. 5. 1980.

Anna Romberg, geb. Behn, ist 1933 nicht mehr im Berliner Adressbuch verzeichnet. Sie muss ungefähr um die gleiche Zeit wie ihr fast sieben Jahre jüngerer Bruder Hermann verstorben sein.