Hässlich

…. daß ich von jung an lebensgern schöne Menschen sah…

Das gesteht meine Großmutter Edith in ihren „Familienplaudereien“. Sie sorgt sich, dass man sie deswegen für oberflächlich halten könne. Aber sie kann nicht davon lassen. Sie beurteilt die von ihr beschriebenen Familienmitglieder danach: schön oder hässlich. Zu dieser Zeit ist sie nicht etwa jung: sie ist 60 Jahre alt. Auch später, als sie in unserer Familie lebte und ich so oft mit ihr plauderte, war das ein Thema: Wie kommt es nur, dass zwei Menschen einander sehr ähnlich sehen können und doch: der eine ist schön, der andere hässlich.

An solche Gespräche erinnert sich auch mein Bruder Klaus aus seiner Jugend. Er sagt, er habe deswegen mit ihr gestritten. Wenn er jemanden "schön" fand, meinte sie, die Person sei bloß "hübsch". Heute glaubt er, dass sie ein durch die Klassik geprägtes Schönheitsideal gehabt habe, das unabhängig von Charakter und Ausdruck gewesen sei.

„Mein Mann sagt immer,“ schreibt sie, „ein Mann könne gar nicht recht häßlich sein, denn man könne so etwas von einem Mann nur sagen, wenn die Pferde vor ihm scheu würden. Meines Großvaters Häßlichkeit war was derart. … Er war groß, stattlich und grundhässlich.“

Dieser Großvater hieß Otto Ehlert und war Getreidehändler in Königsberg. Er hatte sich selbst hoch gearbeitet und war reich. Er heiratete 1851 eine 13 Jahre jüngere Frau, Ottilie Guthzeit, da war er 31 Jahre. Ottilie wurde zur Eheschließung nicht gefragt: „Ihr Vater erschien … im Jungmädchenzimmer … und sagte: ‚Tilchen, mach dich ordentlich, zieh dein Sonntagskleid an – gleich kommt mein Geschäftsfreund Ehlert und ich habe ihm deine Hand zugesagt.’ Punktum. Widerrede gab es nicht.“ Das erste Kind aus dieser Ehe war Klara Helene Ehlert. „Clara, 1852 geboren, war ganz der Vater, von unglaubwürdiger Häßlichkeit.“ – „Was so fatal an Großvaters Aussehen war, war eine mächtige Unterlippe. Unsere Familie hatte das mit den Habsburgern gemein. Das tröstete nicht. Warum es aber gerade die armen Tanten Clara und Anna erbten – das war eine Vererbungstücke, über die ich viel nachgedacht habe.“ So wörtlich Edith Behn, verheiratete Liebert, meine Großmutter mütterlicherseits. Ihren Überlegungen versuche ich zu folgen.

Heute habe ich Clara Helene Ehlerts Handschrift gesehen. Aus Waldkirch hat der Stadtarchivar Gregor Swierczyna mir den standesamtlichen Sterbeeintrag ihrer Mutter Ottilie Ehlert geschickt. Er ist vom 22. Januar 1915. Es ist Krieg in Europa. Die „ledige, erwerbslose Klara Helene Ehlert“ „der Persönlichkeit nach bekannt“ ist offenbar allein auf dem Standesamt der kleinen Stadt im Schwarzwald erschienen. Und sie unterschreibt auch allein. Eigentlich sieht es gar nicht wie eine Unterschrift aus – kein Schnörkel, kein Schwung, steil, gewissenhaft, sauber. Höchstens am trotzigen C in Clara kann man etwas Eigenwillen erkennen. Der Standesbeamte nämlich schreibt Klara mit K, so steht es in Claras Geburtsurkunde, diese Schreibung war um 1852 üblich. Was mag in Clara vorgehen, während sie hier im Bürgermeisteramt Waldkirch unterschreibt?

Claras Mutter Ottilie, die sieben Kinder geboren hat, von denen noch fünf leben, ist heute morgen um halb fünf an diesem 22. Januar 1915 in Claras Gegenwart gestorben. Die Enkelin Edith weiß darüber: „Nach einem schweren Leben starb meine Großmutter einen schönen Tod. Sie war 82 Jahre, saß früh im Lehnstuhl, meine alte Tante, die treu für sie sorgte, zog ihr die Schuhe an. Sie berieten über das Mittagessen, da sank mitten im Satz Großmutter der Kopf auf die Brust und sie war tot.“ Über diesen schönen Tod hat Edith als alte Frau öfter gesprochen. Nach ihren mündlichen Erzählungen habe Ottilie gesagt: „Clara, was essen wir denn heu…?“ und sei tot gewesen.

Dass Ottilie schon morgens um halb fünf ans Mittagessen dachte, mag demjenigen merkwürdig erscheinen, der alte Hausfrauen nicht kennt. Ottilie Ehlert hatte jahrzehntelang in Königsberg einen großen Haushalt mit vielen Gästen geführt. Sie hatte Köchin, Diener und Hausmädchen zur Hilfe, aber Planung und Organisation waren ihre Aufgabe. Edith schreibt dazu: „…zu den Mahlzeiten waren immer einige Gäste. Großmutter stand dem Haushalt mit großer Umsicht vor. Großvater strahlte, wenn alle Kinder Freunde mitbrachten.“ Zu der Zeit, um die es sich handelt, waren manche der sechs lebenden Kinder bereits Jugendliche. Entsprechend waren deren Freunde junge Kaufleute und Offiziere. Eine solche Hausfrauenverantwortung prägt. Die letzten Worte meiner Großmutter Edith sollen gewesen sein: "Hat denn der alte Herr auch sein Tässchen?"

Das alles ist Vergangenheit. Der Konkurs von Otto Ehlert 1886 und sein darauf erfolgender Selbstmord haben die frohen Zeiten im großen Haus Auf den sieben Hufen in Königsberg/Ostpreußen jäh beendet. Die Familie ist zerstreut. Die Witwe Ottilie Ehlert hat zunächst versucht, bei ihrer verheirateten Tochter Martha Behn und deren Familie unterzukommen. Edith kommentiert das knapp:

„Großmutter blieb nicht bei uns. Mutter konnte sich nicht mit ihr stellen. Sie zog dann mit ihrer ältesten Tochter Clara zusammen.“

Clara musste froh sein, dass die Familie so entschied. Ob sie sich „mit ihrer Mutter stellen“ konnte, durfte sie sich nicht fragen. Sie musste „sich stellen“, denn als hässliche Frau war sie unverheiratet geblieben und nach dem Konkurs des Vaters ohne Einkommen. Mündlich hat meine Großmutter Edith erzählt, dass die beiden Frauen in Freiburg im Breisgau – weit weg von Königsberg und seinem Klatsch über den Konkurs – eine Art Pension eröffneten, um junge Mädchen den bürgerlichen Haushalt zu lehren. Ob sich das nachweisen lässt, bin ich sehr gespannt. Zu vermuten ist auf jeden Fall, dass sie das nur eine Zeitlang durchhalten konnten. Mit dem zunehmenden Alter von Ottilie wurde es unmöglich, Clara konnte nicht die Mädchen anleiten und die Mutter pflegen. Das erklärt wohl, warum sie 1911 von Freiburg nach Waldkirch gezogen sind – zwei Bahnstationen in den Schwarzwald hinein. Es war ein ruhiger Ort, vielleicht auch billiger als Freiburg. Dann wird gegolten haben, was Edith so beschreibt:

„Ich erlebte Großmutter und Tante als alte Frauen in bescheidenen, aber auskömmlichen Verhältnissen lebend. Ihr Sohn Hugo erhielt sie völlig.“ Hugo war erfolgreicher Kaufmann, lebte allerdings im Ausland und war mit einer Engländerin verheiratet.

An diesem Januartag 1915 in Waldkirch ist Clara ganz allein mit der Toten. Sie wird zur Post gehen und telegrafieren müssen.

Wohin telegrafiert sie zuerst? Nach Straßburg, wo der Mutter älteste Schwester Laura Guthzeit, verwitwete Friedländer, bei ihrer Tochter Charlotte und ihrem Schwiegersohn Prof. Dr. Georg Dehio lebt? Nach Berlin, wo Claras nächstjüngere Schwester Martha mit ihrem Ehemann Generalleutnant Behn wohnt? Nach London, wo Bruder Hugo, der Kaufmann, der ihren und ihrer Mutter Lebensunterhalt bestreitet, sein Kontor hat? Nach Brüssel, wo Bruder Oskar als wieder verwendeter Reserve-Offizier „militärisch tätig“ ist? Oder nach dem Gut Vensöven in Ostpreußen, das ihr jüngster Bruder Walter bearbeitet? Wer kann ihr bei den Formalitäten der Beerdigung helfen? Ihre Nichte Edith, meine Großmutter mütterlicherseits, hat vor fünf Wochen in Berlin ihre zweite Tochter geboren. Sie hat die eigene Wohnung in Posen kriegsbedingt räumen müssen und lebt nun bei ihren Eltern. Ediths Mann Paul Liebert ist als Offizier an der Front, Ediths Bruder Felix Behn ebenfalls. Und wird Claras Nichte Charlotte Dehio, deren Mann Professor Georg Dehio einen Lehrstuhl in Straßburg hat, jetzt, während des Frankreichfeldzugs, ihre Kinder bei ihrem Mann lassen mögen und nach Waldkirch kommen? Vielleicht wird Klara schmerzlich empfinden, dass ihre jüngste Schwester Anna, hässlich wie sie und ledig, schon 1897 gestorben ist. Sie, die nach Aussagen ihrer Nichte Edith „klug, unendlich gut und auch sehr hässlich“ war, könnte jetzt helfen und trösten. Aber ach, sie würde vielleicht in Frankreich leben, denn dort war sie zuletzt als Hauslehrerin tätig und ist auch dort, in Nancy, gestorben.

Clara ist nicht der Mensch, der sich in solch plötzlicher Notlage gut zurechtfindet. Edith meint: „Sie war sehr überzeugt von sich und belehrend, aber rührend unpraktisch.“ Wie bereitet sie die Beerdigung vor? Gibt es schon Beerdigungsinstitute? Hilft der Pfarrer? Soll die Mutter Ottilie in Waldkirch beerdigt werden oder wird man sie nach Freiburg überführen wollen? Und gleichzeitig muss in ihr die Angst hämmern: Was wird nun aus mir? Wo soll ich hin? Sie ist 63 Jahre alt und ihrer Aufgabe und ihres Unterhalts beraubt.

Vielleicht wird ihr bewusst, dass sie immer ausgenutzt worden ist. „Sie pflegte uns rührend – zu uns beordert – bei Krankheitsfällen.“ Ja, bei den Kinderkrankheiten von Felix und Edith hat man sie gerufen. „Beordert“ sagt genug. Man rief sie nicht gern. Man schämte sich ihrer. „Das Bild meiner ältesten Tante im Wesen ist aber noch unvollkommen. Sie hatte einen schwankenden Gang – über die große Zehe – wie man sagt – kommend. Sie war sehr groß, dürr und knochig. Mein Vater wurde heimlich und laut bewundert, wenn er sich bei ihren Besuchen mit ihr auf der Straße zeigte. Sein vornehmes Herz tat das unerschüttert,“ schreibt Edith. Ihr Vater Hermann Behn war in Ediths Augen ein „schöner“ Mann, groß und blond, wenn auch immer übergewichtig. Er trug Uniform, war zur Kinderzeit Ediths zuerst Hauptmann, dann Major der Pioniere in Köln, Glogau und Neiße. Er zeigte sich mit seiner hässlichen Schwägerin auf der Straße. Und Edith? Sie vermied es wahrscheinlich, gerade deswegen bewunderte sie den Vater „heimlich“. Ihn „laut“ für seine Fairness zu bewundern, war sicher Sache der erwachsenen Verwandten. Besonders Martha wird ihrem Mann dankbar gewesen sein. Sie hatte schon als Kind kummervoll die Hässlichkeit ihrer älteren Schwester wahrgenommen. Meine Großmutter schreibt: „Mutter sagt, es hätte ihr viel Freude auf Festen verdorben, diese arme ältere unbegehrte Schwester mitzuerleben. Sie hätte ihr innig leid getan.“ Aber da gehörte Clara wenigstens als Tochter in ein kinderreiches wohlhabendes Haus, konnte im Winter in der Stadt Königsberg und im Sommer in Kranz an der Ostsee an den Familienfreuden teilnehmen. Schwieriger waren die großen Feste mit fremden Gästen, z.B. die Verlobungsfeier von Martha und Hermann. „Dabei passierte es,“ schreibt Edith, „daß ein Diener auf meines Vaters beste Uniform auf den Ärmel eine fettige Sauce goß. Auf den Sammetaufschlag mit der Silberkandillenstickerei – ach der schöne Waffenrock! Mein Vater war grenzenlos heftig, …er verbiß seinen Zorn – aber als Tante Clara gutherzig kam und mit der Serviette reiben wollte, war es mit seiner Fassung vorbei. Er fasste die Serviette und riß sie mitten durch. – Ja – das war ein nachdenksamer Anfang für eine junge Braut.“ Und für Clara? Was war es für sie? Hat es ein für allemal das Verhältnis zum Schwager festgeschrieben? Vielleicht hat die Reue über seinen Jähzorn ihr später seine ritterliche Haltung eingebracht. Aber was nützt ihr das jetzt?

Ihre Mutter ist tot und Clara hat kein Haus, kein Kind, kein Einkommen. Sie ist von der Gnade der Geschwister und deren Kindern abhängig. „Meine älteste Tante war nach dem erfolgten Tode meiner Großmutter … mittellos zurückgeblieben.“ So beschreibt Edith ihr Los.

„Nur einmal im Leben hätte sie heiraten können,“ meint sie an anderer Stelle. „Ein Superintendent Sondermann – eine wenig nachahmenswerte Standestype – bat

für seinen Sohn um Mutters Hand. Als Großvater eine verneinende Antwort gab, räusperte er sich und sprach, wie gern er mit dem Hause verbunden wäre, ob die älteste Tochter geneigt wäre. Großvater hielt sich nicht für berechtigt – ein glattes „nein“ zu sagen. Mutters Ansichten kannte er, aber seine Älteste wollte gern heiraten. Da bäumte sich aber Tantes Stolz auf – sie sah: hier ging es ums Geld. Sie sagte sofort: nein. Dieser Sondermann war ein merkwürdiger Menschenkenner – der berufliche Seelenforscher mag recht mangelhaft gewesen sein! Er wollte dem Sohn die hübsche und reiche Frau sichern. Warum – glaubte er seinen Sohn mit einer Frau – er war, glaub ich mich zu erinnern, auch Pastor – wie Mutter glücklich zu machen? Hätte er zuerst nach Tante gefragt, sie wäre eine aufopfernde Frau geworden. Meine lebenssprühende Mutter hätte nie dazu sich geeignet ihrer Veranlagung nach.“

Ob Clara als alte Frau diesen Stolz bereut hat? Wäre eine Vernunftehe am Ende besser für sie gewesen? Sie hatte ausgesprochen „schöne“ Brüder, sie hätte auch hübsche Kinder haben können. Und die kalte Berechnung des werbenden Superintendenten auf die Mitgift aus dem Ehlertschen Vermögen musste ja nicht die Berechnung seines Sohnes sein. Ich weiß nicht, wie viel Edith über diesen Sohn wusste. Aber sie meint ganz allgemein, dass Clara „eine aufopfernde Frau“ geworden wäre.

Clara Ehlert nimmt in den „Familienplaudereien“ meiner Großmutter einen verhältnismäßig großen Platz ein. Edith hat sich schon als Kind, dann als Teenager und Heranwachsende viel Gedanken über die Hässlichkeit der Tante gemacht. Sicher hat sie, vor dem Spiegel stehend, ihr eigenes Aussehen geprüft. Doch fand sie: „Ich war ein lachendes, schönes Kind – mit großen brauen Augen. Auch mein Bruder war ganz dunkel. Wir gingen beide nach der Guthzeithschen Familie im Aussehen. Ich finde große Ähnlichkeit mit meiner Mutter Liebling, Bruder Hugo.“ Sie hat, als sie 1902 in Metz anfing, auf Bälle zu gehen, sich nicht als Mauerblümchen gesehen. Trotzdem war ihr klar, dass der Sinn dieser Bälle war, sich gut zu verheiraten. Dabei hat sie auch die andere hässliche Tante zu Rate gezogen. Tante Anna, die zehn Jahre jüngere, hat aus den vergeblichen Ballbesuchen von Clara gelernt. „Meine Tante (Anna) erklärte sofort, erwachsen, sie sähe ihre Hässlichkeit, wolle weder auf Bälle geschleppt, vernachlässigt und alte Jungfer werden oder wegen Geld geheiratet sein. Sie wurde Lehrerin…“ - „Tante Anna gab sich dazu nicht her. Von jung an ersehnte sie einen Beruf in dem sie glücklich wurde.“ „Tante Anna wurde niemals begehrt. Ich habe oft gefunden, daß Männer an wertvollen Frauen, die hässlich sind, vorübergehen. Ich habe mir gesagt, daß es wohl eine notwendige Artauslese ist. Bei Tantes Äußerem darf man aber keinen verurteilen.“

Ediths Problem bei den Bällen war nicht das Aussehen. Bei ihr lag es an der zu kleinen Mitgift. Ihr Vater verdiente zwar gut als Oberst und Kommandeur der Pioniere des XVI. Armeekorps, aber der Bruder Felix machte Schulden. Vater Hermann zahlte, um des Sohnes Karriere im Heer nicht zu gefährden. Und da Ediths Tänzer junge Offiziere waren, wussten sie das und scheuten die Verbindung mit den Behns. 1906 war Edith 25 Jahre alt und immer noch unverlobt. Sie fing an, sich nach einem Beruf umzusehen. Tante Klaras Leben stand ihr warnend vor Augen. Da sie eine sorglose und unaufmerksame Schülerin gewesen war, hatte sie keine guten Zeugnisse. Der Lehrerinnenberuf Tante Annas schien ihr verschlossen. Sie wollte Krankenschwester werden. Dagegen sträubte sich ihre Mutter Martha. Das war nicht standesgemäß! Da erschien gerade zu rechter Zeit mein Großvater Paul Liebert, 15 Jahre älter als Edith, Hauptmann und mit Vermögen. Edith zögerte nicht. Sie „machte eine Partie“ in den Augen ihrer Mutter. Und sie musste es nicht bereuen. Beide, Paul und Edith, wussten, bei allen Gegensätzen, was sie aneinander hatten. Und sie wurden ihren beiden Töchtern liebevolle Eltern.

Dass Edith einen älteren, sie zwar dominierenden, aber auch verwöhnenden Mann bekam, ließ sie die Lust auf den Beruf vergessen. Es scheint, dass sie sich später nie mehr darüber Gedanken machte. Sie passte sich an, verzichtete auf das geliebte Schwimmen, weil er es nicht mochte, wanderte trotz ihrer rheumatischen Füße tapfer durch den Wald, auch wenn Ihr Mann sich hoffnungslos verirrte, führte einen Musterhaushalt mit wenig Geld, buk, nähte, flickte, um zu sparen. Dass ihre Tochter Ruth studierte, geht offenbar auf Ruths eigenen Wunsch, den Rat ihrer Lehrerinnen und auf die Vorstellungen von Paul zurück. Da er keinen Sohn hatte, wollte er diese begabte Tochter nach Kräften fördern, damit sie nicht zu heiraten brauche und Schwester und Eltern ernähren könnte. Edith ihrerseits protegierte Ruths Liebe zum jungen Habenichts Eberhard von Mering. Frauenrechte waren für Edith weder in ihren „Familienplaudereien“ noch in Gesprächen mit mir ein Thema. Auch dabei war Tante Clara ihr ein warnendes Beispiel. Dazu erzählt Edith die „Hässlichkeitsanekdote“:

„In den Freiburger Jahren, als Clara so in den 50er oder 60er Jahren war, entdeckte sie ihr Herz für Frauenrecht. Sie nahm an Versammlungen teil und schnitt sich ihre spärlichen Haare zum Pagenkopf ab, ein trostloses Bild. Und nun will ich mit einer Häßlichkeitsanekdote schließen. Bei solch einer Frauentagung kam eine berühmte Rednerin. Meine erwähnte Cousine Dehio, geb. Friedländer, übernahm, als Professorenfrau irgendwie dazu bestimmt, den Vorsitz und saß neben der gefeierten Rednerin. Auf einmal fragt die sie befremdet, was wohl der alte Geistliche unter all den Frauen wolle. Charlotte Dehio stutzt und versteht nicht. „Nun dort“, sagt ahnungslos der gefeierte Gast, „sehen Sie einmal gegenüber diesen furchtbar hässlichen Predigtamtskandidaten mit den langen Haaren?“ Es war Tante Clara – brustlos und im geknöpften schwarzen Kleid mit der modernen „Frisur“! Da der Rock unter dem Tisch war, war die Täuschung vollkommen.“

Clara Ehlert und ihre Mutter Ottilie

Selbst unter Frauen ist die Hässliche isoliert. Die Anekdote kann ja nur Nichte Charlotte meiner Großmutter, ihrer Kusine, erzählt haben. Hässlichkeit befremdet die andern und macht einsam. Aber natürlich lässt die Familie die arme Clara nach dem Tod der Mutter nicht im Stich:

„Ihr jüngster Bruder holte sie sich nach Ostpreußen auf sein Gut Vensöven. Die Arme erlebte dort dann nach schönen Jahren 80jährig den Zusammenbruch bei dem Bruder. Als man gerade beriet, wohin sie nun solle, starb sie am Herzschlag. Sie war ein lieber, gütiger Mensch, wenn sie auch manche Absonderlichkeiten hatte. Ihr Todesdatum weiß ich nicht mehr, sie war aber 80 Jahre und darüber – ich glaube 82.“ Das würde bedeuten, dass der Konkurs des Gutes Vensöven 1934 stattfand.

Alle diese Überlegungen zur Hässlichkeit schreibt meine Großmutter in den Jahren 1943/4 nieder. Sie lebt mit ihrem Mann in Marburg. „Trotz Krieg und all den damit verbundenen Schwierigkeiten im Haushalt“ gibt es „einsame Stunden, die ein Rückblick füllen und beleben soll.“ Papier und Federn zu bekommen ist ein Kunststück, Nachrichten sind zensiert, die ersten Bomben fallen, beide Töchter leben weit entfernt, ein Schwiegersohn, kein Offizier, sondern ein kriegsunwilliger Pastor, ist an der Front. „Und nun – ach das Herz ist einem jetzt recht schwer!“

In dieser Situation denkt sie an ihre hässliche Tante Clara. Es handelt sich nicht um eine Biographie. Die Äußerungen über Clara sind an sehr verschiedenen Stellen und mit unterschiedlicher Funktion in meiner Großmutter „Familienplaudereien“ eingestreut. Ich erst habe diese Erwähnungen so zusammen getragen, dass Claras Leben aus dem Hintergrund der Familie hervortritt. Sehr deutlich sind die Konturen nicht. Großmutter empfindet das selbst: „Das Bild meiner ältesten Tante im Wesen ist aber noch unvollkommen.“ So bleibt es. Als hätte ihre Hässlichkeit alle anderen Eigenschaften verschluckt. Wer lebensgern schöne Menschen sieht, hat für die Hässlichen einen blinden Fleck im Auge.

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