An zwei Stellen in ihren Jugenderinnerungen traut Ida Guthzeit ihrem eigenen Stil nicht. Eigentlich ist sie eine mutige, selbstbewusste Familienforscherin. Sie ist 1834 im damaligen Kreis Soldau in Preußen geboren, unmittelbar an der Grenze zu Russland. Sie hat 1854 in Königsberg den Leutnant und Gutsbesitzer Henné geheiratet, sie hat drei Kinder geboren, ihr Mann hat Bankrott anmelden müssen und ist jung gestorben, sie hat mit Unterstützung ihrer Verwandten ihre Kinder großgezogen. Sie hat erfahren, wie wichtig Familie ist. 1896 ist sie 63 Jahre alt. Sie weiß, dass sie die letzte ist, die noch Zugang zur Vergangenheit der Guthzeits vor dem deutsch-französischen Krieg 1870/71, zur Zeit vor der Gründung des Deutschen Reiches hat. Ida möchte ihr Wissen der kommenden Generation weitergeben.
Sie erzählt assoziativ, farbig und ohne zu viel Rücksichten auf die Vorfahren, frisch von der Leber weg. Aber zweimal scheut sie sich, eine Situation selbst zu kennzeichnen. Sie beruft sich zweimal auf einen Schriftsteller, von dem sie im Jahr 1896 annehmen darf, dass er ihren Lesern gut bekannt ist. Es ist Gustav Freytag.
Beide Male handelt es sich um das Verhältnis ihrer Eltern bzw. des geliebten Onkels Otto Guthzeit zu einer anderen Ethnie. Beide Male fürchtet sie offenbar Kritik – oder scheut sich, missverstanden zu werden. Vielleicht ist sie auch nur unsicher, wie sie sich ausdrücken soll. Deshalb zitiert sie eine Autorität.
Beim ersten Mal geht es darum, dass Bialutten ganz nahe an der Grenze Ostpreußens zum russischen Teil Polens liegt. Die Güter südlich von Bialutten haben polnische Gutsbesitzer. Von der Entfernung her und auch von der gesellschaftlichen Stellung her stünde einem nachbarschaftlichen Verkehr nichts im Wege. Aber die Eltern haben „allen Verkehr dort aufgegeben.“ Als Grund nennt Ida Guthzeit: „da die Geselligkeit ganz in der Art war, wie sie Freytag in „Soll und Haben“ beschreibt.“
Ich kannte den Roman „Soll und Haben“ nur ganz vage. Ich musste ihn schon durchlesen, um Ida verstehen zu können. „Soll und Haben“ ist 1855 veröffentlicht worden. 1855 war Ida 21 Jahre alt. Gustav Freytags Recherchen zu seinem Roman fallen mit Idas Jugend zusammen. Und da er einen Entwicklungsroman schreibt, ist sein Held Anton Wohlfahrt, der am Ende des Romans heiratet, höchstens 7 Jahre älter als Ida. Es ist kein Wunder, wenn Ida sich in ihm widerspiegelt und seine Empfindungen teilt. Aber sie geht weiter: sie behauptet, dass Freytag die Verhältnisse genauso schildere, wie sie zu ihrer Jugendzeit waren, wenn sie schreibt:
„Die Grenzsperre nach Polen war sehr strenge, u. da die Geselligkeit ganz in der Art war, wie sie Freytag in ‚Soll und Haben’ beschreibt, so hatten die Eltern allen Verkehr dort aufgegeben.“
Welchen Text von Gustav Freytag könnte Ida mit diesem Hinweis meinen? Vielleicht diese Stelle?
„Die Schlitten fuhren in einen weiten Hofraum. Ein langes, einstöckiges Lehmhaus, mit Kalk beworfen und mit Schindeln gedeckt, schaute mit seinen blinden Fenstern vertraulich auf die hölzernen Ställe nebenan. Anton sprang ab und fragte einen Mann in Livree nach der Wohnung des gnädigen Herrn. „Hier ist der Palast“, erklärte der polnische Diener mit tiefer Verbeugung und half der Herrschaft aus dem Schlitten. Erstaunt sahen Lenore und die Baronin einander an. Sie traten in einen unsauberen Hausflur, mehrere schnurrbärtige Geister eilten herbei, rissen diensteifrig die Winterhüllen der Gäste ab und eine niedrige Tür auf. In dem großen Wohnzimmer war zahlreiche Gesellschaft versammelt. Eine hohe Gestalt in schwarzer Seide trat den Gästen entgegen und begrüßte sie in der besten Haltung von der Welt. Die Töchter eilten herzu, schlanke Damen mit Augen und Tournüre der Mutter. Mehrere Namen der jungen Herren wurden genannt, Herr von, Graf von, alle elegante Männer im Salonkleide. Zuletzt kam auch der Hausherr. Sein schlaues Gesicht strahlte von herziger Freude, und die Fuchsaugen leuchteten von Harmlosigkeit. Der Empfang war tadellos, von allen Seiten die wohltuende Leichtigkeit eines sicheren Selbstgefühls. Der Freiherr und die Frauen wurden als werte Bekannte begrüßt, auch Anton erhielt seinen Teil Zuvorkommenheit.“ (Gustav Freytag, Soll und Haben, Hamburg, Weltbund-Verlag 1927, II. Band, Viertes Buch, Nr. 3, S.65/66)
Oder ist es diese Stelle? „Jetzt hatte Anton Muße, sich im Zimmer umzusehen. Unter den rohen Möbeln des Dorftischlers stand ein Wiener Flügel, die Fensterscheiben waren geflickt, auf dem schwarzen Fußboden lag in der Nähe des Sofas ein zerrissener Teppich.
Die Damen saßen auf Samtsesseln um einen abgenutzten Tisch. Die Frau vom Hause und ihre erwachsenen Töchter waren in eleganter Pariser Toilette, aber als sich eine Seitentür öffnete, sah Anton in dem grauen Nebenzimmer einige Kinder mit so mangelhafter Garderobe umherlaufen, daß sie ihn bei der Winterkälte herzlich dauerten. Sie selbst machten sich jedenfalls nicht viel daraus, denn sie balgten sich und lärmten wie Unholde.
Über den wankenden Tisch wurde eine feine Damastdecke gelegt und ein silberner Teekessel aufgesetzt. Die Unterhaltung floß vortrefflich. Leichte französische Bonmots und lebhafte Ausrufe in melodischem Polnisch fuhren durcheinander, dazwischen klang die eintönige deutsche Phrase. An dem schnellen Lachen, den Mienen der Sprechenden und dem Feuer der Unterhaltung merkte Anton, daß er unter Fremden war. Schnell flogen die Worte, in den Augen und auf den Wangen glänzte das flüchtige Feuer der heiteren Erregung. Es war ein bewegliches Volk, elastischer, schwunghafter, leichter ergriffen.“ (Freytag, a.a.O., S. 66/67)
Oder diese Schilderung von Improvisation und Temperament?
„Endlich schlug ein junger Herr einige Akkorde auf dem Flügel an, alles sprang auf und wollte tanzen. Die gnädige Frau klingelte, vier wilde Männer stürzten in das Zimmer, ergriffen den großen Flügel und trugen ihn rücksichtslos hinaus. Die Gesellschaft drängte nach über den Hausflur in den gegenüberliegenden Saal. Als Anton eintrat, kam er in Versuchung, sich die Augen zu reiben. Es war ein leerer Raum mit rohem Kalkanstrich, Bänke an den Wänden und in der Ecke ein abscheulicher Ofen. Mitten im Saal hing Wäsche auf Leinen; Anton begriff nicht, wie man hier tanzen wollte. Aber im Hui wurde die Wäsche von den Fäusten der Diener herabgerissen, einer lief zum Ofen und blies das Feuer an, nach wenig Augenblicken waren sechs Paare zur Quadrille angetreten. Da der Damen zu wenig waren, band ein junger Graf mit einem schwarzen Samtbärtchen und zwei wunderschönen blauen Augen sein Batisttuch um den Arm und erklärte sich mit einem graziösen Knicks für eine Dame. Sogleich wurde er von einem anderen Herrn ritterlich zum Tanze geführt. Selig drehte sich das Völkchen im Takt. Durch die Nachlässigkeit, welche die Mode von den Tänzern des gebildeten Europas verlangt, flatterte zuweilen das Feuer ihres Stammes auf. Lenore trieb mitten darunter. Auch die Baronin war in heiterer Unterhaltung mit dem Hausherrn und Frau von Tarow machte es sich zur Aufgabe, den blinden Freiherrn zu beschäftigen. Das war wieder die vornehme Form, der leichte Genuß des Augenblicks, welchen Anton so oft bewundert hatte; aber heut verzog sich sein Mund zu einem kalten Lächeln. Es schien ihm nicht männlich und nicht würdig, daß die deutsche Familie sich so hingebend unter Gegnern bewegte, welche wahrscheinlich in diesem Augenblicke Feindliches gegen sie und gegen ihr Volk im Sinne hatten.“ (Freytag, a.a.O., S. 67/68)
Oder meint Ida eher diese Stelle: „Tanz folgte auf Tanz, die Köpfe der jungen Herrschaften glühten, die Locken wurden schlaff vom warmen Tau. Schnurrbärtige Diener drangen wieder in das Zimmer und boten Champagner in Eis. Stehend, auf dem Sprunge schlürften die Tänzer den kalten Trank, und gleich darauf stürmte von allen Ecken der Ruf nach einem polnischen Nationaltanz zu dem Hauslehrer, welcher am Flügel saß. Jetzt flatterten die Gewänder, die Tänzer schnellten sich wie Sprungfedern durch das Zimmer, wie Bälle flogen die Mädchen aus einem Arm in den anderen. Ach, und Lenore immer mitten darunter! Anton stand neben dem ansehnlichen Polen in mattem Gespräch und hörte kühl das Lob an, welches dieser der deutschen Tänzerin freigebig erteilte. Was den polnischen Mädchen natürlich stand, die schnellen Bewegungen, die starke Erregung, das machte Lenoren wild und, wie Anton sich mit Missfallen sagte, unweiblich. Und von ihr weg irrte sein Blick an den rohen Wänden umher auf den bestäubten Ofen, in dem ein großes Scheit Holz loderte, bis zu der Decke, von welcher lange graue Spinnweben herunterhingen.“ (Freytag, a.a.O., S. 69)
Vielleicht meint Ida das alles zusammen: Anton, der typische Deutsche, fühlt sich fremd und ohnmächtig unter den vergnügungsfähigen Polen, denen er zutiefst misstraut. Die Beobachtung, dass man an einem Nationaltanz, den die Angehörigen der Nation schon als kleine Kinder erlernen, als Erwachsener nicht in gleicher Weise teilnehmen kann, auch wenn man schnell lernt, ist sehr richtig. Den polnischen Mädchen steht „natürlich“, was das deutsche Mädchen „unweiblich“ macht, schreibt Freytag. Haben die Eltern Guthzeit nicht gewollt, dass ihre Mädchen polnische Nationaltänze lernen? Laura, Ottilie und Ida waren zu der Zeit noch fast Kinder. Oder machten ihnen die Spinnweben an der Decke und die wackligen Tische unter dem Damast zu schaffen – fürchteten sie also, ihre Kinder könnten sich an Unordnung und Unsauberkeit gewöhnen? Oder war es wirklich das Gefühl, „daß die deutsche Familie sich … unter Gegnern bewegte, welche wahrscheinlich in diesem Augenblicke Feindliches gegen sie und gegen ihr Volk im Sinne hatten“?
Mit dem Hinweis auf Freytag entzieht sich Ida einer genauen Ansage. Freytags Schilderung von dem Besuch einer deutschen Gutsfamilie bei einer polnischen ist sehr stimmungsvoll. Alles wird durch Antons Augen gesehen. Vieles spielt herein – das meiste bleibt Andeutung. Das ist der Stoff, aus dem Vorurteile bestehen, aus dem diffuse Abneigungen zwischen Völkern sich nähren.
Allerdings ist bei Freytag nicht alles undeutlich. Klar hebt sich die Liebesgeschichte zwischen Lenore und Anton aus den Ereignissen und auch die Kriminalgeschichte des polnischen Aufstands wird vorangetrieben. Das habe ich zum größten Teil hier weggekürzt. Kann Ida mit ihrem Hinweis auf Gustav Freytag die Vorbereitung der 1848er Revolution meinen?
Ihre Eltern haben jedenfalls den Verkehr mit polnischen Nachbarn ganz aufgegeben, obwohl sie dadurch einsam wurden. An deutschen Nachbarn gab es nur die Gutsbesitzer in Ilowo. „Bisweilen wurden wir drei Schwestern nach Illowo mitgenommen, und obgleich dort keine Kinder waren, erschien es uns als ein freudiges Ereignis,“ schreibt Ida. Auch der Besuch des Onkels aus Königsberg wird jedes Mal heiß begrüßt. Sie waren schon sehr, sehr allein auf dem Gut Bialutten! Und trotzdem verzichteten sie auf den Verkehr mit den polnischen Nachbarn. Und Ida sagt nicht genau, warum.
Noch ein zweites Mal beruft sich Ida auf Gustav Freytag. Jetzt lebt die Familie schon in Königsberg, auf den Hufen. Die drei Mädchen gehen auf die Höhere Schule. Onkel Otto Guthzeit, der nur 4 Söhne hat und eine kränkliche Frau, kommt gern heraus ins Haus seines Bruders, weil die Schwägerin sehr gastfrei ist und die drei Mädchen für ihn schwärmen. Bei der Schilderung seines Erfolges als Kaufmann verweist Ida wieder„Soll und Haben“. Gustav Freytag bringt ihrer Meinung nach die Situation am besten auf den Punkt.
Ida erzählt: „…..Mein Onkel Otto soll in kurzer Zeit fast das ganze norwegische Heringsgeschäft in Händen gehabt haben, die Kapitäne konnten mit ihm in norwegischer Sprache verhandeln u. wurden nach abgeschlossenem Geschäft zu Tisch gebeten und erhielten einen silbernen Esslöffel. Sein Haupttalent aber bestand darin, mit den polnischen Juden fertig zu werden. Es lag entschieden in seiner persönlichen Art, in seinem unverwüstlichen Humor und seiner Geduld, die diese Leute veranlasste, am liebsten mit ihm zu handeln. Die Erzählung in „Soll und Haben“ v. Freytag, wie Herr Fink mit Schmeie Tinkeles verkehrt, erinnert mich lebhaft an manche Scene, die sich an Sommerabenden auf den Hufen abspielte, wenn ihm die Juden nach Geschäftsschluss dahin nachkamen. Dreimal warf er (Onkel Otto Guthzeit) einen Juden hinaus, und wenn er zum viertenmal wiederkam, empfing er ihn mit einem Scherz und machte doch das Geschäft und ein gutes Geschäft. Beide Teile waren befriedigt und hatten nie die gute Laune verloren.“
Vielleicht ist diese Art, mit Juden orientalisch zu handeln, Ende des 19. Jahrhunderts schon nicht mehr üblich. Im Deutschen Reich hatten sich inzwischen viele Juden assimiliert und die andern waren vielleicht aus dem internationalen Handel verschwunden. Joachim Ernst hat mir erzählt, dass der typische Ostjude mit Peies und Kaftan in Berlin vor dem 1. Weltkrieg sehr selten geworden war. Erst in den Zwanziger Jahren sei er wieder aufgetaucht. Dass man Juden „hinauswirft“ im ganz normalen Gang des Geschäfts, kam den Kindern von Ida vielleicht schon so sonderbar vor wie mir.
Bei Freytag heißt die entsprechende Stelle folgendermaßen:
„Wozu kommt Ihr wieder, Schmeie Tinkeles?“ fragt Fink kalt, „ich habe Euch schon gesagt, daß wir kein Geschäft mit Euch machen wollen.“
„Kein Geschäft?“ ruft der unglückliche Tinkeles krächzend in abscheulichem Deutsch, so daß Anton ihn nur mit Mühe versteht. „Solche Wolle, wie ich bringe, ist noch nicht gewesen im Lande.“
„Wie hoch der Zentner?“ fragt Fink schreibend, ohne den Juden anzusehen.
„Was ich doch habe gesagt,“ antwortet der Jude.
„Ihr seid ein Narr,“ sagt Fink, „fort mit Euch!“ ….
„Wai!“ schreit der Mann im Kaftan, „was ist das: fort mit Euch? Mit fort kann man machen keine Geschäfte.“
„Was wollt Ihr also haben für Eure Wolle?“
„41 ⅔“, sagt Tinkeles.
„Hinaus,“ bemerkt Fink.
„Sagen Sie doch nicht immer hinaus!“ bittet der Jude in Verzweiflung, „sagen Sie, was wollen Sie geben?“
„Wenn Ihr so unverschämt fordert, gar nichts,“ sagt Fink, eine neue Seite seines Briefes beginnend.
„Sagen Sie doch nur, was wollen Sie geben?“ bittet der Jude wieder.
„Nur wenn Ihr wie ein anständiger Mann redet,“ antwortet Fink den Juden ansehend.
S. 61: „Ich bin anständig,“ sagt der Jude leise, „Was wollen Sie geben?“
„39“, sagt Fink.
Jetzt gerät Schmeie Tinkeles außer sich, schüttelt seine schwarzen Locken und verschwört sich bei seiner Seele Seligkeit mit lautem Geschrei, er könne nicht unter 41; worauf Fink ihm bedeutet, er werde ihn von einem Hausknecht hinausführen lassen, wenn er solchen Lärm mache. Darauf geht der Jude entrüstet vor die Türe, steckt den Kopf wieder herein und ruft: „Also was wollen Sie geben?“
„39“, sagt Fink und sieht der aufgeregten Mimik des Händlers ungefähr mit demselben Interesse zu, mit dem ein Physiker die galvanischen Zuckungen eines Frosches betrachtet. Die Zahl 39 bewirkt in der Seele des Juden eine neue Explosion, er tritt wieder vor, verschwört seine Seele in den tiefsten Abgrund der Hölle, und erklärt sich selbst für das nichtswürdigste Scheusal der Welt, wenn er für weniger als 41 ablassen könne. Als er sich auf wiederholte Ermahnungen Finks, ruhig zu werden, dazu nicht entschließen kann, wird der Hausknecht gerufen. Das Erscheinen desselben wirkt so weit beruhigend, daß Herr Tinkeles erklärt, er könne allein gehen und werde allein gehen, worauf er still steht und 40 ½ sagt. Der Agent, der Provinziale und das Kontor sind still und hören der Verhandlung neugierig zu, während Fink dem armen Schmeie mit einer gewissen Herzlichkeit den Vorschlag macht, er solle sich ohne weiteres entfernen, er sei völlig Narr und mit ihm kein Geschäft zu machen. Darauf wendet der Jude sich trotzig ab und geht hinaus. … Fink sagt zum Prinzipal, der einen unterdes erhaltenen Brief durchliest: “Er wird’s lassen, wenn ich ihm noch einen halben Taler zulege. Wollen Sie mit 39 ½ abmachen?“
„Wieviel?“ fragt der Kaufmann.
„120 Zentner“, sagt Fink.
„Nehmen Sie“, sagt der Kaufmann und liest weiter.
Von neuem wird die Tür aufgerissen, das Geschwirr geht
S. 62: fort, und Anton bemüht sich vergebens zu verstehen, wie man die Wolle kaufen könne, nachdem der Verkäufer in so entschiedener Weise gegangen ist. Da öffnet sich, gerade als wieder drei bis vier Stimmen durcheinander sprechen, ganz leise die Tür, Tinkeles schleicht auf den Zehen herein bis hinter Finks Platz und sagt, diesem die Hand auf die Schulter legend, wehmütig und vertraulich: „Was wollen Sie noch geben?“
Fink wendet sich um und sagt ebenfalls mit vertraulichem Lächeln: „Weil Ihr es seid, Tinkeles, 39 1/3, aber nur unter der Bedingung, daß Ihr kein Wort weiter sprecht, sonst nehme ich das Gebot zurück.“
„Ich spreche nichts,“ antwortet der Jude, „sagen Sie 40.“
Fink macht eine Bewegung der Entrüstung und weist schweigend nach der Tür. Der Händler geht und dreht an der Tür um.
„Jetzt kommt’s,“ sagt Fink. Darauf kehrt der Händler zurück und spricht mit mehr Haltung: „39 ½ , wenn Sie es dafür wollen nehmen.“
Nach einigem Zögern bemerkt Fink wie gelegentlich: „Es mag sein.“ Worauf Schmeie Tinkeles ganz umgewandelt ist, sich als liebenswürdiger Freund der Handlung erweist und angelegentlich nach dem Befinden des Prinzipals erkundigt.“
Freytag beschreibt die Beziehung zwischen den beiden jungen Kaufleuten, dem deutschen von Fink und dem galizischen Tinkeles als eine sehr dichte Beziehung. Beide sind aufeinander angewiesen. Tinkeles reist durch Polen, das damals ohne eigenen Staat war, sucht und kauft Waren auf den Landgütern. In diesem Text handelt es sich um Wolle, aber auch Felle, Honig, Wachs und Talg sowie Holz und Leinwand lieferte das weite ländliche Polen. Die „Handlung“ Schröter in Königsberg liefert solche Waren über den Hafen in andere europäische Länder, oder über die Bahn nach Preußen. Sie braucht den Agenten, der Agent braucht den Exporteur. Das Handelsgespräch der beiden Männer ist ein ritualisierter Kampf, der Hinauswurf des Verkäufers bezeichnet jeweils das Ende einer Runde. Der Abschluss muss, wenn er gut sein soll, für beide annehmbar sein, also dem tatsächlichen Wert der Ware zum jetzigen Zeitpunkt entsprechen.
Was nicht in Ordnung ist nach unsern heutigen Begriffen, ist, dass Fink den Juden „Ihr“ nennt und Tinkeles den Deutschen „Sie“, dass Tinkeles niemals von selbst die Handlung verlässt, sondern jedes Mal „hinausgeworfen“ wird, auch dass Fink den Galizier öfter einen Narren nennt. Die Heftigkeitsausbrüche von Schmeie Tinkeles sind wohl seiner Erziehung zu danken, aber ganz offenbar werden sie auch als Kampfmittel eingesetzt, so wie Fink seine ironische Kälte anwendet.
Später im Roman wird Anton Wohlfahrt erleben, wie sehr Schmeie Tinkeles an der Handlung Schröter hängt, und was alles er zu tun bereit ist, um dort wieder als Lieferant zugelassen zu werden. Schmeichelt Freytag damit dem deutschen Kaufmannsstand? Immerhin bleibt Tinkeles ein Agent ohne eigenes Geschäft – Wohlfahrt hingegen heiratet in ein Vermögen ein.
Ida hat Grund, von dem Geschäft ihres Onkels Otto Guthzeit zu schwärmen. Ihrem Mann ist es nicht geglückt, als Gutsherr und Kaufmann erfolgreich zu sein. Und auch ihr Schwager Otto Ehlert, einer meiner 8 Ururgroßväter, der zunächst für sie und ihre Kinder aufkam, musste Konkurs anmelden. Ihr blieben der Mann ihrer ältesten Schwester Laura, Professor Dr. Ludwig Friedländer, und ihr Vetter, der Konsul Otto Guthzeit, als Unterstützer bei der Ausbildung ihrer Kinder. Vielleicht hat sie sich bei der Schilderung, wie Onkel Otto Guthzeit mit den jüdischen Händlern umging, deswegen auf Gustav Freytag berufen, weil sie fürchtete, den Schwager Friedländer zu kränken, dessen Verwandte zum Teil auch Fell- und Pelzhändler waren, oder den Sohn und Nachfolger ihres Onkels, der diese Methoden seines Vaters nicht gut hieß.
Dass der Professor Ludwig Friedländer in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts zeitweise unter Depressionen litt, weil er glaubte, sein Schwiegersohn Prof. Dr. Dehio sei Antisemit, ist eine nachdenkenswerte Notiz zu diesem Thema. Gustav Freytag jedenfalls wird heute nicht mehr in Volksbibliotheken geführt, seine Schilderungen jüdischer und polnischer Menschen gelten als chauvinistisch. Ob diese Beurteilung richtig ist oder ob wir nachträglich in seine Texte unsere schlimmen Erfahrungen hineinlesen, müssen unsere Enkel entscheiden.