Das Gut Bialutten ist das Kindheitsparadies von drei Mädchen, Laura, Ottilie und Ida Guthzeit. Alle drei sind dort geboren, in den Jahren 1831 bis 1834, im Alter ganz nah beieinander. Die mittlere, Ottilie Guthzeit, geboren am 19.12.1832, ist meine Ur-Urgroßmutter. Die jüngste Schwester, Ida Guthzeit, hat als alte Frau folgendes aufgeschrieben:
„Es wurde zu damaliger Zeit, selbst auf den großen Gütern, sehr einfach gelebt. Wild, Geflügel, Honig, Milch und Butter war reichlich da, verkauft wurde davon nichts, da die Verbindung zu schwer war. Wenn jedes Jahr die Reise mit der Schafwolle nach Elbing unternommen wurde, kam das gesammelte Wachs mit und Gewürzwaren retour. Die Winterabende saß die ganze Familie um einen großen Tisch, bei der Beleuchtung von 2 selbst gegossenen dicken Lichtern. Meine Mutter strickte und las vor, Vater machte Filet oder sonstige Handarbeit, Tante Malchen spann, die Wirtin im Hintergrund haspelte, und, als später eine Gouvernante im Hause war, hat diese oft weiß dick gestickt – alles bei zwei Lichtern. Wer von uns der Kinderstube entwachsen war, saß ehrbar mit dem Strickstrumpfe dabei.
Mittwoch, Sonnabend und Sonntag bekamen wir Licht u. durften in Tante Malchens Stube spielen. Wie Letztere behauptet, haben wir 3 Schwestern Laura, Ottilie und ich uns nie gezankt, sicher ist, daß wir uns nie gelangweilt haben. Wir kamen in Jahren mit keinem fremden Kinde zusammen, wir haben es auch nie vermisst. Mit Dutzenden von kleinen Gelenkpuppen dramatisierten wir gewissermaßen alles, was unseren Geist anregte. Schulen und Kindtaufen, Wasserfahrten und Landreisen, alles wurde durchgespielt in dem vierfenstrigen Saal, eine Treppe hoch, in dem wir im Sommer spielten; legten große Gärten von Moos, Steinen und bunter Wolle an, wie Miniaturpläne, und unsere lebhafte Phantasie erfand immer neuen Stoff. Ein Geburtstag ist mir unvergesslich, an dem mich Schwester Laura mit einer Puppenstube überraschte, die sie selbst aus einer alten Pappschachtel fabriziert hatte, und als noch Tante Malchen einen großen Beutel mit nie gesehenen Flicken zulegte, waren wir zwei entzückt, und emsig wurde eine Reorganisation der ganzen kleinen Puppenwelt in Scene gesetzt. Große Puppen waren uns langweilig.“
Das Gut Bialutten ist nach Fritz Gause1 früher ein Adliges Gut gewesen. Es wurde wohl schon vom Deutschen Ritterorden angelegt. Immer lag es im südlichsten Zipfel von Ostpreußen, im Amt Soldau, später im Kreis Neidenburg. Die Gesamtfläche des Gutes Bialutten betrug nach Fritz Gause2 im Jahr 1816 1295 ha, und im Jahr 1859 1104 ha. Im 17. und 18. Jahrhundert hatte es polnischen Adligen gehört, die noch größere Güter außerhalb Preußens besaßen und deshalb nur zeitweilig anwesend waren. Er beklagt, dass über die adligen Güter viel weniger Material da sei als über die Amtsgüter, die dem König unterstanden. Zahlreiche Verordnungen, die Visitationen und einen reichen Briefwechsel nach sich zogen, belegen die Entwicklung der preußischen Städte und Ämter. Beim Adligen Gut reichte die Macht der Regierung nur bis zum Gutsbesitzer selbst. Und wenn der ein „freier Pole“ war, erkannte er den Herzog oder König in Preußen nicht an. Er entzog sich staatlichen Verpflichtungen. Dazu bringt Gause einige Beispiele aus dem 18. Jahrhundert. In der „Vollständigen Topographie vom Ost-Preußischen Cammer-Departement“, Verlag Goldbeck 1785, ist der Patron der katholischen Kirche und Besitzer des Gutes Bialutten Graf von Kraschinski und von Gersdorf. Dagegen schreibt Gause, dass Graf Kasimir Krasno von Krasinski das Gut Bialutten schon 1784 verkauft habe. Auf Seite 199 berichtet Gause: „So lieh 1797 der Graf v. Szymanski auf Bialutten von dem Schutzjuden Baruch Chemiak in Neidenburg 3500 Taler und 1798 von dem Handelsjuden Michael Lazarus, der im Jablonskischen Palais in Warschau wohnte, 1200 Taler.“ Weiter weiß Gause, dass das Gut bald versteigert wurde. An wen, weiß er aber nicht.
Meine Verwandte Ida meint, dass ihr Großvater Carl Guthzeit das Gut gekauft habe. Sie schreibt:
„Nach den Unglückstagen von Jena und Auerstädt stockte jeder Verkehr, und der Wert des Grundbesitzes fiel unglaublich. Mein Großvater kaufte in dieser Zeit das Rittergut Bialutten, Kreis Neidenburg, 102 Kulmische Hufen groß für 7000 Thl. Landschaftsschulden. Es waren 90 Hufen Wald und 12 Hufen sandiger, schlecht kultivierter Ackerboden. Wahrscheinlich hat ihm sein Schwager Landbaumeister Le Juge das Geld vorgeschossen. Tatsache ist, daß ihm sein ältester Sohn Carl 10 Jahre später diese Ankaufssumme von seinen Ersparnissen gegeben hat.“ Aber da irrt sie wohl.
Mit Hilfe von Herrn Reinhard Kayss habe ich eine Kirchengeschichte der Diözese Thorn erhalten, geschrieben von einem polnischen Geistlichen. In ihr heißt es über das Gut Bialutten:
„Von Blaź Kraśinski erbte das Gut Anton Kraśinski, der Kastellan von Zakrocze, von ihm sein Sohn Kazimir, Ritter des Ordens vom Weißen Adler. Im Jahr 1786 verkaufte der Bevollmächtigte von Kazimir Kraśinski, Wojciech Bobinski, Bialutten an Jan Poliwczynski, welcher sich verpflichtete den katholischen Pfarrer zu unterhalten und der Kirche sieben Hufen Land zu verschreiben.
1787 übernahm der Deutsche Fryderyk Krause3 von der Domäne Lidzbarsk (Lautenburg) das Gut unter dem Namen einer (Schulden-)Verwaltung. Von ihm übernahm es 1796 Herr Faustin Szymanski. 1800 war der Eigentümer des Gutes Bialutten der preußische Offizier Fryderyk Ziemięski. Zu seiner Zeit 1811 wurde die Bauernbefreiung durchgeführt, in Bialutten 12 Betroffene, in Dzierwnia sieben, in Woli 10 Bauern mit Familien, in Purgałki 5 und in Soche 4.
Nach dem Fall der Republik (Polen) und den Napoleonischen Kriegen blieb die Pfarrei Bialutten bei den Preußen, an der Grenze zum von Russland besetzten Gebiet.“
Dies scheint mir die wahrscheinlichste Version: Die Domäne Lautenburg ersteigerte 1787 das hoch verschuldete Gut und gab es in den folgenden Jahren an private Pächter aus. Der letzte davon war Idas Großvater Carl Guthzeit. 1808 wäre dafür eine wahrscheinliche Zeit.
Sehr interessant ist an dieser Stelle der Name des „Deutschen Fryderyk Krause“, der offenbar der Verwalter der Domäne Lautenburg um 1787 war. Da Idas Mutter eine geborene Krause ist und ihr Bruder Friedrich Krause heißt, könnte dieser Verwalter der Vater oder Onkel von Johanna Krause sein. Die Familien Guthzeit und Krause sind womöglich schon in der vorigen Generation miteinander bekannt gewesen.
Zur Kirchlichen Situation auf Gut Bialutten schreibt Ida:
„Sonntag früh las Vater eine Predigt vor, zu der alle Hausgenossen hereingerufen wurden. Sonntag Mittag kam der katholische Pfarrer der kleinen katholischen Patronatskirche zu Bialutten zu den Eltern zu Tisch und blieb auch zum Abend, wenn die Eltern nicht nach Illowo fuhren. Es war ein gebildeter liebenswürdiger Mann, namens Aust, von dem die Eltern auch alle Kinder, da die nächste evangelische Kirche sehr weit lag, katholisch taufen ließen. Seine Vorgesetzten haben aber den intimen Verkehr mit einer Ketzerfamilie höchlichst missbilligt, er wurde strafversetzt, u. es kam ein roher, zelotischer Geistlicher an seine Stelle, der nie unser Haus betrat und Vater viel Ärger schaffte.“
Dass die kleine Patronatskirche des Gutes Bialutten katholisch war, obwohl die Gutsherren im 19. Jahrhundert zu den Evangelischen zählten, hatte natürlich historische Gründe. Die polnische Adelsfamilie Narzymski hatte die Kirche nach der Reformation rekatholisiert. Gause macht darauf aufmerksam, dass dadurch die evangelischen Bauernfamilien zu Spanndiensten und Abgaben für eine katholische Kirche gezwungen wurden und dass auch die Schule katholisch war. Carl Heinrich Guthzeit hat das Problem offenbar mit dem gebildeten katholischen Geistlichen gut lösen können, mit seinem Nachfolger aber nicht mehr. Ob dieser freundliche Pfarrer Adalbert Czackert hieß, wie Gause meint, oder Aust, wie Ida erinnert, kann ich nicht nachprüfen. Richtig ist, dass 1835 ein Wechsel stattfand. Der liebenswürdige Priester könnte durch die Erfahrung der Strafversetzung zu dem Eiferer geworden sein, als den Gause ihn schildert4.
Über Außenkontakte der Familie berichtet Ida:
„Bisweilen wurden wir drei Schwestern nach Illowo mitgenommen, und obgleich dort keine Kinder waren, erschien es uns als ein freudiges Ereignis. Natürlich wurde dann in der großen, geschlossenen Kutsche und vierspännig gefahren, und nur mit dem würdevollen, zuverlässigen deutschen Kutscher Jakob auf dem Bocke. Deutlich entsinne ich mich, wie mein Vater, vor einer Rückfahrt von Illowo, an einem kalten, schneefreien Winterabend, Jakob instruierte, schnell und vorsichtig zu fahren, es hätten sich Wölfe gezeigt. Dieser Befehl war nicht für meine Ohren bestimmt, aber, in welcher Aufregung saß ich, wenn auch lautlos im Wagen, während wir ¾ Stunden durch unseren Wald fuhren, links und rechts die schwarze Wand der hohen Kiefern, darüber der schmale Streifen des hellen Himmels und mein Vater mit der Hand am Wagenschlag. An klaren Winterabenden hörten wir oft das Heulen der Wölfe jenseits der Grenze u. in jedem Winter veranstaltete mein Vater eine Treibjagd auf Wölfe.
Es gab aber noch ein freudiges Ereignis im Winter, an dem das ganze Haus ausnahmslos teilnahm, das war der Besuch von Onkel Otto aus Königsberg. Als echter Sohn seines Vaters war er ein passionierter Jäger, und wenn großer Frost die Schiffahrt hemmte und der Handel in Königsberg stockte, dann kam er zur Jagd nach Bialutten. Seine Ankunft wirkte auf alle wie Sonnenschein. Sein heiteres Gesicht, sein prächtiger Humor, der Witz, den er für jeden hatte, - es waren Festtage für das ganze Haus. Selbst mein Vater wurde gesprächig und heiter, und obgleich fast täglich auf die Jagd gegangen wurde, blieb doch genug Zeit, daß Alle, besonders seine Schwester Malchen, sich seiner erfreuen konnten. Die abendlichen Boston-Partien, uns Kindern sonst so langweilig, verliefen mit so viel Lachen und Scherzen, daß wir stets in demselben Zimmer blieben. Bisweilen brachte Onkel einen Vetter, Onkel Horneffer, oder seinen Schiffskapitän Schirrmann mit, einen wenig gebildeten, aber liebenswürdigen Mann und großen Kinderfreund, der mit uns tollte, wie ein älterer Bruder.
Die Sommervergnügungen bestanden in weiten Spaziergängen in den Wald. Mutter war eine große Naturfreundin und machte sich immer nach dem Kaffee Zeit frei, um mit Tante Malchen, der Großmutter und uns Kindern eine weitere Tour zu unternehmen. Abends tollten wir im Garten herum, und obgleich wir nie mit einem Knaben zusammen gekommen waren, spielten wir fast nur Knabenspiele, Räuber und Soldat, oder vielmehr Pascher und Grenzsoldat, und die längsten Bohnenstangen gaben die schönsten Reitpferde. Das Ewig-Weibliche entwickelte sich sehr viel später.
Wir hatten so viel Freiheit, daß wir uns heimlich, in der entferntesten Ecke des großen Gartens eine Hütte bauten und eine Art Robinsonade entrierten. Außerhalb des großen Gartens durften wir nie ohne Begleitung, außer zu dem alten Inspektor Mörs und seiner Frau, die wir sehr liebten. Wir drei Schwestern haben eine sehr glückliche Jugend gehabt, ganz ungeniert durch den Anzug. Ein Kleid von Hausmacher-Leinenstoff vom Halse bis zu den Knöcheln hinderte uns wenig, und mit wahrem Mitgefühl sehe ich die armen Stadtkinder an, deren zierliche Kleidung ihnen eine große Last und Hindernis jeden freien Spieles ist. – Daß die Resultate dieser kräftigenden Erziehung bei uns drei Schwestern so wenig glänzend sind, liegt wohl daran, daß wir eine gewisse Lungenschwäche als Erbteil von Vater und Großmutter überkommen haben.
Zu den Festen gehörte auch das Honigbrechen. Jeder Jäger kannte in seinem Revier die wilden Bienenstöcke in hohlen Bäumen. An einem bestimmten Tage wurde mit allerhand Gerät und großen kupfernen Kesseln in den Wald gefahren und der Honig in derselben Weise gebrochen, wie es Wiechert in seinem Großen Kurfürsten beschreibt.“
Als Erwachsene weiß Ida später sehr wohl, dass das Gut Bialutten nicht von vornherein eine Idylle war. Sie schreibt:
„Nach den Unglückstagen von Jena und Auerstädt stockte jeder Verkehr, und der Wert des Grundbesitzes fiel unglaublich. Mein Großvater kaufte in dieser Zeit das Rittergut Bialutten, Kreis Neidenburg, 102 Kulmische Hufen groß für 7000 Thl. Landschaftsschulden. Es waren 90 Hufen Wald und 12 Hufen sandiger, schlecht kultivierter Ackerboden. Wahrscheinlich hat ihm sein Schwager Landbaumeister Le Juge das Geld vorgeschossen. Tatsache ist, daß ihm sein ältester Sohn Carl 10 Jahre später diese Ankaufssumme von seinen Ersparnissen gegeben hat. Der Umzug mit Federvieh, Pferden etc. fand statt und Großvater zog als Großgrundbesitzer in ein niedriges strohgedecktes Holzhaus, mit der Aussicht auf einen wüsten, weiten Wirtschaftshof mit baufälligen Gebäuden, die Fernsicht begrenzt auf 2 Seiten von eigenem Wald, und einige hundert Schritte vom Gutshof entfernt, der polnische Wald. Vor diesem lief der etwa 3 Fuß tiefe polnische Graben, teilweise noch flacher, aber in der Wirkung wie die chinesische Mauer (Die Grenze zwischen Preußen und Russland, zu Napoleonischer Zeit zwischen Preußen und dem Herzogtum Warschau). Auf der vierten Seite stieß das Dorf Bialutten fast unmittelbar an den Wirtschaftshof, mit der kleinen hölzernen katholischen Kirche, deren Patron der Gutsherr ist. Eine größere Waldabgeschiedenheit als damals Bialutten ist kaum denkbar. Eine Meile davon das Gut Ilowo als einziger Umgang, sonst im Umkreise von 2 – 3 Meilen nur Dörfer mit polnischen Bauern, die nächste Stadt Soldau 2 Meilen entfernt, und welch sandiger, steiniger Weg!“
Wenn auch manches nicht ganz deutlich ist, so hat diese Schilderung doch die Besitzangaben des Goldbergschen Registers für sich. Und das bedeutet, dass das hoch verschuldete Gut nicht Carl Guthzeit gehörte, sondern der Domäne Lautenburg unterstand. Es ist die Zeit, da der Staat Preußen seine Domänen und Ämter verkauft, um die Reparationen an Napoleon zahlen zu können. Die Gegend untersteht der Kriegs- und Domänenkammer und wird erst durch die Steinschen Reformen 1808 überhaupt Regierungsbezirk. Die 7000 Taler, die Ida ja wenig vorkommen, sind nicht das Kaufgeld, sondern die Kaution, die der Pächter an die Domäne zahlt. Und dass der Großvater so wenig Interesse am Zustand der Gebäude zeigt, spricht auch für ein Pachtverhältnis.
Ohne Zweifel ist es eine schwere Zeit. Napoleons Truppen befinden sich überall im Land und requirieren. Ida erzählt nach der Familienüberlieferung durch ihre Tante Amalie Guthzeit:
„In diese Zeit fiel der Durchzug von französischem Militär, das furchtbar hauste. Bei ihrem Herannahen wurden die Pferde zusammengekoppelt, und die beiden ältesten Knaben mussten mit ihnen an eine bestimmte Stelle in den tiefsten Wald reiten, nur mit einem Stück Brot in der Tasche u. der Weisung, nicht ungerufen zurückzukommen. Noch im Alter erinnerte sich mein Vater, wie sehr er und Ferdinand sich in der Nacht, bei dem entfernten Geheul von Wölfen, die damals häufig von Polen herüber kamen, gefürchtet hatten. Bei der sehr langsam fortschreitenden Civilisation in Polen, und der Nachbarschaft der großen Waldungen, und weil dort der Besitz von Schießwaffen an polizeiliche Erlaubnis geknüpft ist, sind diese Raubtiere noch jetzt dort häufig. Am Schlusse des zweiten Tages wurden die Knaben nach Hause gerufen, wo sie den Hof halb verwüstet fanden. Mit den Scheunen- und Stalltüren, mit Leitern und Zaunbrettern war Biwakfeuer unterhalten (und der große Wald einige hundert Schritte entfernt!) eine Kuh und 2 Hühner war alles, was Tante Malchen von lebendem Inventar übrig behalten hatte, alles andere hatten die Franzosen geschlachtet. Noch einmal hatte Großvater so unliebsame Gäste: nach der Schlacht von Eylau (7./8. Februar 1807) durchstreiften bis hierher französische Fouragiere das Land, denn die Königsberger Gegend war bald ausgesogen. In der Nacht kam ihm einer seiner Leute mitteilen, ein Knecht hätte den Franzosen verraten, es gäbe noch weiße Erbsen auf dem Gute. Noch in der Nacht holte mein Großvater den Hofmann und sie säten beide die Erbsen auf den Schnee aus. Lieber lassen sie dieselben verfaulen, als daß die Franzosen sie bekommen, und mit großer Befriedigung sah er tags drauf den Fouragier unverrichteter Sache vom Hofe ziehen. Die Natur spielt aber bisweilen wunderbar. Die auf den Schnee geworfenen Erbsen gaben das nächste Frühjahr ein herrliches Feld und schließlich einen selten reichen Ertrag. Meilenweit kamen die Leute, sie für 4 Thl. per Scheffel zu kaufen, und dafür hinwiederum konnte der Großvater Saatgetreide beschaffen, was eine Existenzfrage war. Damit endigte die letzte direkte Kriegsnot, von der Bialutten in der napoleonischen Zeit heimgesucht wurde.“
„Noch in demselben Jahre 1808 traf die Familie das größte Unglück, was ihr der Himmel schicken konnte, die Großmutter hatte sich durch ein Fußbad in einem kalten Bach (bei großer Hitze) den Husten geholt, verfiel in Schwindsucht und starb nach 2 Monaten.“
Ida erzählt, dass der Witwer die jüngeren Kinder bei Verwandten unterbrachte, die beiden älteren Söhne arbeiteten als Knechte auf dem Gut, die vierzehnjährige Tochter Amalie führte den Haushalt. Nicht lange, und er verheiratete sich wieder, schon, weil eine Gutsherrin unbedingt nötig war. Ida meint, es sei sogar der Rat der sterbenden Großmutter dabei ausschlaggebend gewesen. „Auf dem Totenbett hatte meine Großmutter geb. Le Juge den Großvater dringend gebeten, bald wieder zu heiraten und empfahl ihm ein älteres Fräulein, die immer in vornehmen Familien als Gesellschafterin in Stellung gewesen war. Sie kannte sie zwar nicht lange, aber sie muß ihr wohl gescheut und energisch erschienen sein, und ihre feinere Bildung ließ sie hoffen, daß sie auch für die weitere Ausbildung der Kinder und besonders des heranwachsenden Malchen sorgen würde. Gerade an ihre Tochter hat sie dabei gedacht u. erwartet, eine passende Stellvertreterin gefunden zu haben. Wie nötig dem Großvater eine selbständige, vorsorgende Frau tat, wusste sie am Besten.“ Aber die Wahl war schlecht. Diese zweite Frau wurde alkoholkrank.
Ida erzählt:
„Mir ist diese zweite Frau meines Großvaters nur unter dem Namen „die Seelige“ bekannt. In meinen Kinderjahren war noch oft die Rede von ihr, und auf ihren besonderen Wunsch sind wir einmal als Kinder in Soldau zu ihr geschickt worden. Ich entsinne mich ihrer als eines triefäugigen schmutzigen alten Weibes, die große Scheu uns einflößte. „Die Seelige“ stand ganz allein und hat die Heirat wohl als Versorgung angesehen. Im Anfange nahm sie sich sehr der Wirtschaft an und war auch gütig zu ihrer Stieftochter Malchen. Aber sehr bald überkam sie die Langeweile, und sie vermisste sehr das lebhafte gesellige Leben, das sie bisher geführt hatte, die großen Diners mit anregendem Weingenuß und viel Abwechslung, und nun? - -
Mein Großvater, ein stiller, ernster Mann, mit nur einer Passion, der Jagd (hat sich bei den 3 Söhnen vererbt), das kleine hölzerne Wohnhaus mit seinen 3 Stuben und dem Kälbergarten daneben, der wüste, große, baufällige Wirtschaftshof davor und die Fernsicht auf drei Seiten begrenzt durch dunklen Kiefernwald, damals in der Tat ein Gottvergessener polnisch katholischer Winkel. Im Anfange hat sie den Großvater viel gequält, Besuche bei den Nachbarn zu machen, d.h. 2 – 3 deutsche Meilen weit, aber der Großvater war keine gesellige Natur, schlug es ihr ab und ging lieber auf die Jagd. Bier kam nicht in’s Haus, Wein noch weniger, da fing sie an, magenleidend zu werden und nahm oft einen Liqueur und immer öfter und öfter. Nachmittags wurde sie aufgeregt, zänkisch, befahl widersinniges Zeug, es war deutlich – sie war angetrunken. Es gab ernste Auftritte mit dem Großvater und es kam kein Liqueur mehr in’s Haus. Da trank sie Eau de Cologne und ließ sich von den Dorfweibern Branntwein aus dem Dorfkruge bringen. Auch das kam heraus, und es wurde den Weibern bei strengster Strafe verboten, ihr Spirituosen zuzutragen; also trank sie Brennspiritus und entwickelte eine unglaubliche Schlauheit, sich denselben zu beschaffen. Vormittags spielte sie noch die Gebieterin, war herrisch zu den Leuten und zu ihrer Stieftochter, Nachmittags kam das Stadium der Heiterkeit und dann der sinnlosen Betrunkenheit. Oft hat sie Tante Malchen vor einer Stalltüre sinnlos liegend gefunden, und die Knechte mit ihren Späßen um sie herum, dann ließ sie sie von den Mägden aufheben und in eine leere Oberstube tragen, wo nur ein Bett stand, und schloß sie ein, bis sie wieder nüchtern war. Wie sie sich geschämt hat, dies junge 16jährige Mädchen, wie sie in die Wirtschaft hat eingreifen müssen, um einigermaßen Ordnung zu erhalten…“
Ida glaubt selbst, dass das Paradies ihrer Kindheit zur Zeit ihrer Großeltern ein „gottvergessener polnisch katholischer Winkel“ war und dass man an der Einsamkeit dort erkranken konnte. Nur die Harmonie der Ehe ihrer Eltern, die glückliche Veranlagung ihrer Mutter: „sehr heiter, sehr lebenslustig und von seltener Güte und heitere Umgebung ihr ein Bedürfnis“, die Selbstzucht und Ehrlichkeit der Vatersschwester Amalie machte das Gut Bialutten zu einem Hort von Sicherheit und Glück. Die sommerlichen Besuche der Großmutter mütterlicherseits aus Mohrungen und die Besuche des Vatersbruders aus Königsberg im Winter waren wichtige Fenster in die Welt draußen und bedeuteten daher immer große Freude.
Idas Vater erst hat vor ihrer Geburt das Gut gekauft mit dem Geld, dass er durch seine langjährige Tätigkeit als staatlicher Geometer verdient hat. Die Befreiungskriege sind vorbei, die Steinschen Reformen greifen, Preußen erholt sich langsam. Die alte Generation tritt ab. Ida schreibt:
„Mein Großvater starb am 17. Dezember 1831 und als Ältester und Bemitteltster der Geschwister übernahm mein Vater Carl Heinrich am 1. Januar 1832 offiziell das Gut….“
„Meine Mutter hat oft erzählt, wie schwer es ihr im Anfange geworden ist, sich in Bialutten einzuleben. Das hölzerne, kleine, strohgedeckte Wohnhaus, in das man von draußen eine Stufe in den Flur hinuntertrat. Links ein Wohn- und Schlafzimmer, nebst kleiner Kammer, rechts ein großes Gesellschaftszimmer und eine Hinterstube, in der die Wirtin und Tante Malchen schliefen, und in der gewebt wurde. Alles niedrig mit kleinen Fenstern. Geradezu durch den Flur die Küche mit großem offenem Herd. Die nächste Umgebung wüst und reizlos, die Gutsleute alle polnisch. Der einzige erreichbare Umgang eine Gutsbesitzersfamilie Riehl in Ilowo, eine deutsche Meile entfernt, ¾ Meile immer durch Bialuttens Wald zu fahren. Mutter fand ihre Schwägerin Malchen dort, da aber zwei nicht regieren können, so trat Tante Malchen sofort die ganze Wirtschaft meiner viel jüngeren Mutter ab. Sie hatte die Selbstüberwindung, sich um nichts mehr zu kümmern und sich auf ihr Zimmer zu beschränken. Sie blieb in meines Vaters Hause bis zu dessen Tode, nur unterbrochen durch Samariterreisen in die ganze Verwandtschaft. Wer von meiner Generation ist nicht von ihr gepflegt worden? In ihrer ruhigen, energischen, klugen und umsichtigen Art, immer opferbereit, ohne jede Prätention, war sie ein wahrer Schatz für die ganze Familie. Sie hatte sich in meinem Elternhause einen ganz bestimmten Wirkungskreis geschaffen, für alles, was krank war, sorgte sie. Meine Mutter hat 10 Kinder gehabt (von denen 5 in zartem Alter starben), so wie eines krank wurde, kam es zu Tante Malchen. Ich war besonders schwächlich und kränklich, und so wurde ich mit 4 Jahren ihr ganz übergeben. Ich schlief in ihrem Zimmer oder dicht daneben und habe sie erst bei meiner Verheiratung verlassen. So kann ich wohl mit Recht sagen, sie war mir eine zweite Mutter, und ich stand ihr so nah wie ein Pflegekind.“
Zwei tüchtige und verträgliche Hausfrauen waren sicher ein Glück für das Gut Bialutten. Eine „Wirtin“, also eine bezahlte Haushälterin, kam als dritte dazu. Diese Wirtin war sicher eine deutsche Angestellte, sie konnte ja offenbar an den langen Winterabenden dem Vorlesen im Wohnzimmer folgen, ebenso werden „der Inspektor Mörs und seine Frau“ Deutsche gewesen sein. Die Mägde hingegen waren Polinnen, auch die Knechte. Sie gehörten als Bauern und Instleute zum Gut, wohnten im Dorf in ihren eigenen Häusern. Sie waren vom Gutsherrn abhängig, hatten aber ihre Privatsphäre. Nach dem Buch von Fritz Gause „Geschichte des Amtes und der Stadt Soldau“ gehören 1816 siebzehn spannfähige bäuerliche Nahrungen zum Gut, 1859 sind es noch 11. Aber Ida kennt diese Bauern nicht. Kein Name von einem der Hausmädchen oder Instleute fällt ihr ein! Nur der Tischler Anuszki ist ihr in Erinnerung geblieben. Denn der Vater, der nun Eigentümer von Bialutten ist, fängt an, die Gebäude zu erneuern.
Ida fährt fort:
„Mein Vater hatte ganz das Zeug zu einem Pionier der Wildnis; nicht nur in jedem Baugewerbe war er Meister, er war auch ein vorzüglicher Gärtner, er schnitzte sehr schön, machte Buchbinderarbeiten, Filet- und Kreuzstichstickereien und konnte jede Handarbeit, die er Lust hatte, zu lernen. Auf ihn passte das Sprichwort: ‚was seine Augen sahen, konnten seine Finger machen,’ immer fand er eine nützliche Arbeit für seine nie ruhenden Hände an den langen Winterabenden. Er bereitete 2 Jahre hindurch alles zum Bau eines neuen Wohnhauses vor. Jahrelang war der Tischler Anuski unter seiner Aufsicht auf dem Gute beschäftigt, und wurde der freundliche Mann von uns Kindern oft besucht. Holz, Ziegel, Kalk lieferte das Gut, und so baute mein Vater (1837 – 1839) das große stattliche Wohnhaus, von dem der jetzige Besitzer noch sagt, es wäre tadellos und selbst der äußere, steingraue Abputz noch ohne Fehler. Die breite Front, zwei volle Stockwerke hoch, mit vorzüglichen hohen gewölbten Kellern und einem zweistöckigen Seitenflügel für die Wirtschaftsräumlichkeiten, ist es ein würdiges Wohnhaus für einen großen Güterkomplex wie Bialutten. Neben dem Hause legte mein Vater einen sehr großen Garten (jetzt Park genannt) an, wo jetzt der Buchengang an der einen Längsseite ein ganz geschlossenes Gewölbe bildet, die von ihm oculierten Obstbäume, die Gebüsche und Blumenrabatten noch genau in demselben Arrangement bestehen, wie er es angelegt. Jedes einzige der Wirtschaftsgebäude hat mein Vater gebaut u. dem Ganzen das stattliche Ansehen gegeben, wie es zu einer so großen Begüterung passt. Eine meiner ersten Erinnerungen ist der Umzug nach dem neuen Hause und das Entzücken über die Tapeten; ich war damals 5 Jahre alt.“ Dieser Umzug fand also 1839 statt.
1840 reist der Vater mit der Mutter nach Königsberg, um als Delegierter an der Huldigung Friedrich Wilhelms IV. teil zu nehmen.
Warum die Familie Guthzeit 1845 das nun so wohnliche Gut verkauft und in die Stadt Königsberg zieht, kann man sich fragen. Ida gibt dafür zwei Gründe an: der eine ist die Ausbildung der Mädchen. Ihre Mutter Johanna hatte „eine sehr sorgfältige Erziehung in einem der renommiertesten Pensionate Königsbergs bei Frau Consistorialrat Kasse“. Sie hat ihre Töchter durch Lektüre und Klavierunterricht zuerst selbst unterwiesen. Dann hat sie Hauslehrerinnen eingestellt, aber sie nicht ausreichend gebildet befunden. Laura ist jetzt 14, Ottilie 13 und Ida 11. Die Eltern wünschen für sie eine Schule, schließlich sollen sie gut verheiratet werden. Der zweite Punkt war die hohe Anforderung, die der Gutsbetrieb an den Vater stellte.
Ida schreibt: „Meines Vaters Gesundheit war nie kräftig gewesen, und er hatte schon als junger Leutnant Bluthusten gehabt, 3 Söhne waren früh gestorben, Bruder Carl eben geboren, so fühlte mein Vater nicht die Verpflichtung, das Gut für einen Sohn zu erhalten und beschloss bei seiner großen Angegriffenheit, das Gut zu verkaufen. Er verwaltete die 90 kulmischen Hufen Wald mit Hilfe von 3 Jägern allein, und jede Woche, Dienstag und Freitag, war Holzverkaufstag, wo mein Vater bei jedem Wetter von morgens fünf bis zum Abend ohne Unterbrechung im Walde beschäftigt war.“ 1845 war Karl Guthzeit 54 Jahre alt. Offenbar glaubte er, nicht mehr lange so belastbar zu sein. Und anscheinend konnte er das Gut Bialutten jetzt mit Gewinn verkaufen. Mit Königsberg begann für die ganze Familie Guthzeit ein neuer Lebensabschnitt.
Zur Familie gehörten außer den drei Schwestern Laura, Ottilie und Ida noch kleinere Geschwister, aber die starben meistens bis auf die beiden jüngsten, Johanna und Karl. Der Abstand zwischen Ida und Johanna beträgt etwa 10 Jahre, das ist in der Kindheit sehr viel. Johanna wird sich später kaum an Bialutten erinnern können. Als sie etwa zwei Jahre ist, verkaufen die Eltern das Gut und ziehen mit ihren fünf lebenden Kindern nach Königsberg.
Ida hat als ältere Frau im Jahr 1896, während sie ihre Erinnerungen niederschrieb, Kontakt zum derzeitigen Besitzer gehabt, ja, sie scheint sogar einmal in Bialutten gewesen zu sein. Sie erwähnt, dass der jetzige Besitzer das Gebäude „tadellos“ fände und sie schreibt, „wo jetzt der Buchengang an der einen Längsseite ein ganz geschlossenes Gewölbe bildet, die von ihm (dem Vater) oculierten Obstbäume, die Gebüsche und Blumenrabatten noch genau in demselben Arrangement bestehen, wie er es angelegt.“ So genau kann sie das eigentlich nur behaupten, wenn sie es selbst gesehen hat.
„Augenblicklich,“ schreibt Ida, „umfasst der Wald nur noch 40 kulmische Hufen, und doch hat der jetzige Besitzer eine reizende Oberförsterei im Schweizerstil erbaut, und ein studierter Oberförster mit Unterförstern verwaltet den Wald. Das Material ist eben viel kostbarer geworden.“
Dieser „jetzige Besitzer“, von dem Ida Guthzeit erzählt, könnte Alfred Oehlrich gewesen sein. Die Familie Oehlrich hatte das Gut nicht schon 1845 von den Guthzeits gekauft. Dafür kommt die Familie von Hertzberg in Frage, denn Ferdinand von Hertzberg stirbt 1851 auf Gut Bialutten als Herr von Bialutten. Alexander H.F. Oelrich, Apotheker in Thorn, kaufte das Gut Bialutten 1858. Laut seinem Grabstein, der sich heute noch auf dem Friedhof in Bialutten befindet, hat er das Gut von 1858 – 1874 besessen.5. Alexander Oehlrich war am 31. August 1813 geboren und starb am 20. Juli 1874. Seine Frau Caroline, geb. Diesterichs, lebte noch bis zum 12.12.1883 auf dem Gut bei ihrem Sohn und ihr Grab ist ebenfalls dort erhalten.
1874 erbt Franz Oehlrich das Gut. Im Jahr 1889 stirbt er ohne leibliche Erben. Seine Geschwister, ein Bruder Alfred in Riga, und zwei Schwestern, Elise, verwitwete v. Kraatz-Koschlau aus Eisenach und Martha Venske aus Halle, beerben ihn. Keiner von den dreien sieht sich zunächst in der Lage, nach Bialutten zu ziehen und das Gut zu übernehmen. Die Geschwister ernennen den Oberförster Carl Seyffert zum Verwalter des Gutes. Aber kurz darauf entschließt sich Alfred Oehlrich doch, das Gut selbst zu übernehmen. Brennerei-Verwalter ist Ernst Hueninghaus. Letzterem könnte Friedrich Strehlau, geboren 1865, zwischen 1895 und 1900 im Amt gefolgt sein. Strehlau war verheiratet mit Anna, geb. Richard. Ihnen wurde im Jahr 1913 auf Gut Bialutten eine Tochter geboren, Reinhild Werners Mutter.
Seit 1905 gehörte der Gutsbezirk Bialutten zum Kreis Neidenburg. Die Bevölkerung hatte sich verdoppelt, evangelische deutschsprachige Familien hielten Einzug. Offenbar wirtschaftete Alfred Oehlrich erfolgreich. 1904 finanzierte dieser Gutsbesitzer einen großen Teil der evangelischen Kirche, damit er seine Angestellten und Arbeiter nicht mit Fuhrwerken zur evangelischen Kirche nach Narzym fahren musste. Pfarrhaus und Schule gehörten auch dazu. Die kleine Stadt Soldau war inzwischen ein Eisenbahnknotenpunkt geworden. Die Erträge des Gutes, Holz und Spirituosen, konnten leichter exportiert werden. Trotzdem war der Ort immer noch abgelegen. Die Geburtsurkunde des Kindes Strehlau wurde erst 1920 ausgestellt, als die Familie Bialutten verließ.
Der 1. Weltkrieg war verheerend für das Gut Bialutten. Gleich 1914 brannten Kosaken das viel gelobte Gutshaus nieder. Und am Ende, nach der Niederlage Deutschlands, wurde die Grenze Ostpreußens nördlich des Gutsbezirks festgelegt, Bialutten fiel an Polen. Herr Oehlrich habe 1924 sein Gut mit einem gewissen Braheim in Deutschland getauscht, heißt es in der kleinen „Chronik vom Dorf und Gut Bialutten“. Braheim habe den starken Wald abgeholzt und dann Bialutten an einen Polen namens Szepkowski verkauft. Der habe das Gut nach zwei Jahren an Kazimir Dombrowski aus Warschau weiterverkauft. Unter ihm sei das Gut verwahrlost. Ohne den Wald war es nicht lebensfähig, denke ich. Im Jahre 1938 kam es zur Parzellierung. Nach 1939, unter der deutschen Besatzung, übernahm die Ostpreußische Landgesellschaft alles und hat es bis zur Vertreibung 1945 mit deutschen Aussiedlern bewirtschaftet.
Das Ende dieser nationalsozialistischen deutschen Bewirtschaftung war noch furchtbarer als die Verwahrlosung nach dem 1. Krieg. Viel zu spät, erst am 18. Januar 1945, erging die staatliche Erlaubnis zur Evakuierung. Die Russische Armee überrollte den flüchtenden Treck der Dörfler, raubte ihn aus, schickte die Menschen zurück, aber die meisten kamen unterwegs durch Kälte oder Gewalt um. Wer die Häuser von Bialutten erreichte, fand sie von Russen und Polen besetzt. Wenige fanden sich später in Deutschland wieder.
Heute gibt eine schöne Homepage der Parafia Bialuty, die Herr Piotr Grzymkowscy betreut. Man sieht buntes dörfliches und kirchliches Leben. Und alte Postkarten, liebevoll gesammelt, bezeugen die Geschichte des Ortes. Herr Reinhard Kayss von der Kreisgemeinschaft Neidenburg weiß, dass der katholische Priester in Bialutten ein Kaschube ist, der gut Deutsch spricht. Er habe die Grabmale vom Friedhof der Gutsbesitzerfamilie auf den katholischen Friedhof geholt, damit sie erhalten bleiben. Sehr abgelegen wird Bialutten immer noch sein, auch für Polen ist es tiefste Provinz. Vielleicht ist das Leben dort schwer und auch schön, so, wie es immer war.