Die Liebert-Saga

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Die Liebert-Saga ist die Geschichte der Herkunft meines Urgroßvaters Otto Liebert. Sie führt nach Großpolen, nach Kobylin bei Lissa oder, wie es heute heißt, Leszno. Der erste Liebert heißt Michael und ist Einwohner in Jutroschin. Als er zum ersten Mal erwähnt wird, 1731 bei der Hochzeit seines Sohnes Martin, eines Windmüllers in Kobylin, ist er schon verstorben. Michael Liebert war deutschstämmig und evangelisch-lutherisch. Er gehört in einen Personenkreis, der schon um 1630 im Dreißigjährigen Krieg von Schlesien ins Königreich Polen ausgewichen ist. Grund dazu war die heftige Gegenreformation der Habsburger. 

Dieses Großpolen hatte die gleiche Landschaft und das gleiche Klima wie Schlesien. Die Adeligen waren seit der Reformationszeit evangelisch und hatten immer schon Glaubensflüchtlinge bei sich aufgenommen: das Land war geräumig und die Einwanderer sollten es entwickeln helfen. Windmüller wurden gebraucht. Die Lieberts wurden Windmüller. Sie lebten als Bürger und Handwerker im winzigen Kobylin, zwischen polnischen Adelsgütern und polnischen Bauerndörfern. Sie lebten in diesem Städtchen zusammen mit Juden, die den Handel übernahmen, und mit polnischen katholischen Handarbeitern. Sicher sprachen die Lieberts auch polnisch, aber in Rathaus, Zunftstube und Kirche wurde Deutsch gesprochen und geschrieben. Deshalb war auch die Schule deutsch. Die Lehrer und Pastoren kamen aus Deutschland und die Gesellen gingen nach Deutschland auf Wanderschaft. Es war ein ehrgeizig angestrengtes, sehr vielseitiges Leben. Drei Generationen Liebert sind Windmüller auf der Stadtmühle in Kobylin, in der vierten werden beide Söhne, Carl Christian und Daniel Benjamin Bäcker.

Warum die Stadtmühle der Familie Liebert abhanden kam, steht nicht im Kirchenbuch. Die napoleonischen Kriege mögen dabei eine Rolle gespielt haben, aber auch der frühe Tod der Mutter, der erst 23jährigen Christiana Charlotta, geb. Kammer. Der Vater heiratet schnell ein zweites Mal – aber das neugeborene vierte Kind von Charlotta stirbt trotzdem. Die zweite Frau, Susanna, geb. Pflegel, stammt wie Charlotta aus einer Müllerdynastie in Kobylin. Doch auch von ihren Kindern ist später keines Müller auf der Stadtmühle. 1822 stirbt Christian Carl, der letzte Windmüller der Familie Liebert. Der älteste Sohn ist erst 17 Jahre alt. Er kann die Mühle nicht übernehmen. Er und auch sein Bruder, mein Vorfahr Daniel Benjamin, machen eine Bäckerlehre, vielleicht, durch Patenschaften vermittelt, im nahen Lissa. Auf jeden Fall leben und arbeiten beide später dort. In Lissa verheiraten sie sich und ziehen Kinder auf.

Daniel Benjamin, lutherisch erzogen, geht 1836 die Ehe ein mit Charlotte Zytowski, einer Nachkommin der Böhmischen Brüder. Die Verbindung ist vielleicht von Anfang an spannungsreich, sie scheint eine sehr energische Frau gewesen zu sein und ihm fehlt vielleicht das freie Leben auf der Windmühle. Dazu kommt der Konfessionsgegensatz und der Schwiegervater Samuel Zytowski, der eine wichtige Rolle in Stadt und Kirchengemeinde innehat. Die Entscheidung bringt das Jahr 1848. Daniel Benjamin Liebert fühlt mit den aufständischen Polen, als Deutscher, als Handwerksmeister und Bürger setzt er auf die Revolution. Das bringt ihn in Gegensatz zu dem streng konservativen und propreußischen Bürgertum in Lissa. Er wird zum Außenseiter. Ob er sich auch strafbar macht, weiß ich nicht. 1854 zieht er die Konsequenz, verlässt seine Frau und seine fünf Kinder und wandert über den Hafen Bremen nach Amerika aus, ohne seine Schulden zu bezahlen.

Unser Urgroßvater Otto Liebert, Daniel Benjamins ältester Sohn, hat also Erfahrung mit Armut. Aber die Mutter gibt sich nicht geschlagen. Nach der Familien-Saga hilft ihr ein Jude mit einem ersten Kredit für die Bäckerei. Otto und seine Brüder besuchen das Gymnasium in Lissa und lernen dann in Marienberg den Eisenhandel. In Guhrau, nicht weit von Lissa, lässt sich Otto mit einem eigenen Geschäft nieder, wozu ihm ein Bruder seiner Mutter das Kapital leiht. Die reiche und tüchtige Müllerstochter Emma Saur wird Ottos Frau und führt selbständig das Geschäft weiter, als Otto 1870/71 im Krieg ist. Emma stirbt 30-jährig, wohl von der vielen Arbeit und fünf Schwangerschaften erschöpft. Otto bricht fast zusammen, sein Bruder muss das Geschäft für ihn leiten. Eine zweite Ehe wird vermittelt und Julie Sonntag aus Patschkau macht Mann und Kinder wieder glücklich: nie wollte unser Großvater Paul dulden, dass man "die böse Stiefmutter" im Märchen sagte, so dankbar war er ihr. Sein Vater Otto hatte inzwischen die Molkerei in Guhrau übernommen. Er war ein vermögender Mann und konnte seinen ältesten Sohn nach Breslau auf das berühmte Elisabeth-Gymnasium schicken. Anscheinend sah er es gern, dass Paul 1887 die Militärlaufbahn einschlug. So wurde unser schlesischer Großvater, der Windmüllernachkomme, preußischer Offizier.

Er war es meistens im Frieden. Er diente in vielen Garnisonen: in Straßburg, in Metz, in Berlin, in Posen. Er heiratete spät, angeblich, weil er glaubte, er werde nicht alt werden. Mit neununddreißig Jahren entschloss er sich doch noch: die Tochter seines Chefs hatte es ihm angetan. Edith Behn war vierundzwanzig Jahre alt. Die Hochzeit fand am 14. März 1907 in Berlin statt. 1910 wurde unsere Mutter Ruth in Sablon bei Metz geboren. Wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn ihr Vater bis zu ihrer Großjährigkeit im Dienst aufgestiegen wäre, kann man nicht wissen. Es kam der Erste Weltkrieg, die Niederlage, das Ende des Kaiserreichs. Paul Liebert wurde als Mann von 49 Jahren pensioniert. Seine Ansichten wurden erschüttert. Er beschloss, seine älteste Tochter studieren zu lassen und ihr ein eigen bestimmtes Leben zu ermöglichen. Er suchte eine kleine und nicht teure Universitätsstadt. Seine Wahl fiel auf Marburg an der Lahn. Aus ganz ähnlichen Gründen hatte diese Universität ein junger Theologe aus Köln erwählt. Im Sommer 1929 lernten sich Ruth Liebert und Eberhard von Mering beim Lektor für Griechisch Dr. Wysk kennen. Es war nachhaltig. Am 17. August 1937 heirateten die beiden und wurden unsere Eltern.

Der Spitzenahn des Stammes Liebert ist Michael Liebert, Einwohner in Jutroschin, Vater eines Sohnes Martin um 1700 (1699) und gestorben dort vor 1731. Dieser Sohn Martin ist der erste Windmüller Liebert in Kobylin.

Der Spitzenahn des Mütterstamms Zitowski ist jünger: der Bildhauer Franz Zittowske in Lissa ist 1777 schon verstorben, als sein einziger Sohn Martin Gottlieb Zytowsky, ebenfalls Bildhauer, sich verheiratet.