Brückenschlag über fünf Generationen

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Zuerst veröffentlicht in: ARATORA 13, 2003, Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Schutz Arterns, hrsg. von Klaus und Andreas Schmölling, S. 43 - 51

Wie weit bin ich von dem Mädchen entfernt, das im Jahr 1786 in Artern das Licht der Welt erblickt! So ein Haus wie das Weißbäckerhaus Meyer gibt es ja gar nicht mehr, auch wenn ich den Duft von frischen Kuchen und von gedörrtem Obst noch kenne und mich erinnere, wie er alle Räume eines Hauses durchziehen kann. Es ist dieser Duft, der die niedrige Stube im Haus in der Altstadt von Artern seit 20 Jahren imprägniert hat, die Stube, in der die Bäckersfrau Maria Eleonora Meyer, geb. Zeise, gerade entbindet. Alle Balken, alle Stoffe riechen nach Milchsemmeln und Pfannkuchen, und gerade jetzt im September erwärmt das Haus der Hauch der getrockneten Birnenschnitze, denn es ist ein Weißbäckerhaus.

Sauerteig darf der Weißbäcker nicht verwenden, dunkle große Brotlaibe darf er nur im Heimbackhaus der Innung backen, wenn er ein "Los" dazu besitzt, das bestimmt die Arterner Back-Ordnung von 1715, die gerade vor 15 Jahren, nämlich 1771, noch einmal abgeschrieben und allen Weißbäckern eingeschärft worden ist. Merkwürdigerweise darf der Weißbäcker aber zu den großen Festen in seinem Backofen allerlei Fleisch braten, Rind- und Schweinefleisch, Wild und Geflügel, sowohl um es frei stückweise am Scharren zu verkaufen als auch dann, wenn es ihm gegen Backlohn von Bürgerfamilien übergeben wird.

Wenig Zeit hat die Bäckersfrau zur Geburt ihres neunten Kindes. In letzter Minute erst hat sie die Wehemutter rufen lassen. Die Arbeit im Haushalt, im Laden drängt, die zum Teil noch kleinen Kinder – sechs sind insgesamt am Leben - brauchen die mütterliche Hand. Die Hebamme ist geschäftig. Schon ist das Neugeborene abgenabelt, gebadet, gewickelt. Die Wöchnerin liegt auf dem Bett, atmet tief den Duft der reifen trocknenden Birnen ein. Dabei streift ein besorgter Blick den Säugling. Wird er wieder sterben wie schon drei andere vor ihm? Nein, das Kind wirkt kräftig, es atmet ruhig. Die Mutter seufzt. Die Geburten werden immer leichter, aber die Müdigkeit in den Wochen danach nimmt zu. Sie merkt, dass sie bald 40 Jahre alt wird, auch wenn es nicht üblich ist Geburtstage zu feiern. Die Hebamme spricht der Wöchnerin tröstend und beschwörend zu. Wenigstens sieben Tage Ruhe solle sie sich gönnen, damit nicht das gefürchtete Kindbettfieber auftrete. Sie ruft die älteste Tochter der Bäckersfrau herein, legt ihr den Säugling in den Arm und fordert sie auf, für Mutter und Kind gut zu sorgen. Die 18jährige Eleonora gehorcht.

Das Neugeborne lässt alles geduldig mit sich geschehen. Es schließt die Augen am Herzen der Schwester. Ein Leben hat begonnen in der Altstadt von Artern, unscheinbar, unaufgeregt, wie nebenbei, ein neues Leben, an dem rätselvoll auch meine Existenz hängt. Denn dieser winzige Mensch ist eine meiner 16 Urur-Urgroßmütter. Getauft wird sie auf den Namen Maria Dorothea nach ihrer Patin Maria Dorothea Schulz, einer Sattlersfrau. Das Taufwasser fließt über ihr Köpfchen in der evangelischen Marienkirche von Artern an dem alten hölzernen Taufbecken, das ein goldener Engel in Händen hält. Die heilige Formel spricht Diakon Gelbke. Maria Dorothea wird neu geboren aus Wasser und Geist, sie wird Christin evangelischer Konfession. Sie hält still. Sie bekommt Patengeschenke. Verwandte und Nachbarn trinken Bier und Branntwein auf ihres Vaters Kosten und auf ihr Wohl.

Maria Dorothea weiß nicht, dass sie durch ihre Geburt in Artern Sächsin ist. Dass der Oberaufseher in Eisleben im Namen des Kurfürsten Friedrich August III. von Sachsen diesen Teil der ehemaligen Grafschaft Mansfeld verwaltet. Keine Ahnung hat sie, dass Bürgermeister und Rat vom alten Rathaus aus die Stadt regieren. Sie fügt sich ins Leben, sie trinkt Muttermilch, sie schläft, sie weint, sie lernt lächeln. Sie weiß Gerüche zu unterscheiden, dann Stimmen, dann Gesichter. Sie wird krank, sie wird gesund, sie fängt an zu krabbeln auf den Dielenböden des Weißbäckerhauses. Sie tut die ersten Schritte am Gängelband der älteren Schwestern. Sie lernt die ersten Wörter. Sie weiß noch nicht, dass es Deutsch ist, was sie nachplappert. Der weiche Tonfall von Artern wird ihre Muttersprache.

Wie weit sind wir voneinander entfernt, das Mädchen Dorothea Meyer und ich! Ich bin in Saarbrücken geboren, in Norddeutschland aufgewachsen und habe erst jetzt, selbst schon Großmutter, Artern besucht. Für Dorothea aber war die Altstadt von Artern die Heimat. In diesen engen Gassen mit den kleinen, traulich aneinander gelehnten Häusern, wo ich spazieren gehe, immer wieder stehen bleibe, mich mühsam orientiere, lief sie herum seit Kindesbeinen. Mir gefällt es hier, aber es ist neu für mich, fremd. Was haben sie und ich miteinander gemein außer einem kleinen Teil unsrer Erbsubstanz? Ich habe mich auf die Suche gemacht nach meiner Urur-Urgroßmutter. Vergeude ich meine Zeit?

Alle Personen in den Akten, die ich im Stadtarchiv von Artern mit Hilfe von Frau Charlotte Loeschmann finde, alle Personen in den Aufsätzen der Aratora, die mir Herr Andreas Schmölling freundlicherweise zugänglich macht – alle diese historisch greifbaren Personen sind Männer: Der Churfürst von Sachsen und sein Beamter Bergrat Pfarr in der Saline, der Oberaufseher Eisenhuth in Eisleben, der Husarenkommandant von Süßmilch und sein Regiment, die Ratsherren und Zunftmeister, die Mitglieder des Schützenvereins, die Pastoren und Lehrer, die Salinenarbeiter und Bäckerlehrlinge – alle vom männlichen Geschlecht. Und sehr männlich, geradezu Idol ihrer Zeit, sind der Kaiser Napoleon und seine Generäle. Die Frauen erscheinen nur im evangelischen Kirchenbuch von St. Marien, das ich unter der geduldigen Zuwendung von Frau Gabriele Mertinat lesen darf. Frauen sind nur aktenkundig, wenn sie getauft werden, wenn sie Kinder gebären, wenn sie sterben. Das Patenamt ist das einzige Amt, dass man ihnen anvertraut. Alle andern Aufgaben in der Öffentlichkeit sind ihnen verschlossen.

Ging Maria Dorothea zur Schule? Wahrscheinlich, aber es ist nicht sicher, dass sie auch schreiben und lesen lernte. Der Unterricht beim Kantor Kühne in der alten Schule gegenüber der Marienkirche bestand im Singen und Auswendiglernen im Chor. Schreib- und Leseunterricht musste extra von den Eltern bezahlt werden. Diese Ausgabe lohnte sich eigentlich nur bei Söhnen. So wird auch Vater Johann Gottfried Meyer, der Weißbäckermeister in der Altstadt, gedacht haben.

Als Maria Dorothea neun Jahre alt ist, im Jahr 1795, stirbt ihr die Mutter. So extrem furchtbar uns das heute erscheint - dies Schicksal ist in meiner Familiengeschichte häufig. Meine Vorfahrinnen sind nur selten im Kindbett gestorben, aber viele von ihnen am Beginn der Wechseljahre. So erleben mehrere der Nachkommen eine Stiefmutter, denn natürlich muss der Vater schnell wieder heiraten. Dazu drängen ihn die Verwandten, die Nachbarn, die Zunftgenossen, danach verlangt gebieterisch die Arbeit im Handwerksbetrieb, danach schreien die unversorgten jüngeren Kinder. Der Weißbäcker Meyer, ein sonst heftiger und energischer Mann, entschließt sich schwer. Die Verstorbene war seine Jugendliebe. Vielleicht ist er auch selbst schon krank. Er heiratet erst 1797 eine Frau aus Gehofen, Anna Rosina Bohn, Tochter eines Anspänners. Es ist deren erste Ehe. Ob Anna Rosina Bohn jung war, kann ich aber nicht sagen. Sie übernimmt einen Geschäftshaushalt und sieben Stiefkinder, von denen allerdings die älteste Tochter vermutlich schon verheiratet ist. Anna Rosina bekommt keine leiblichen Kinder mehr. Schon im März 1799 stirbt der Weißbäcker Johann Gottfried Meyer an "langwieriger Geschwulst und Entkräftung" mit nur 58 Jahren. Anna Rosina wird nach kurzer Ehe Witwe, Maria Dorothea und ihre Geschwister vaterlos.

Das alles verläuft so stürmisch, dass mir scheint, Dorothea kann in diesen Jahren auf nichts anderes geachtet haben. Krankheit und Tod beider Eltern haben ihr Erwachsenwerden überschattet, denn alles fand ja vor ihren Augen und Ohren statt. Ebenso wie das Kindbett standen auch die Sterbebetten im vertrauten Weißbäckerhaus. So konnte Dorothea 1795 kaum auf den Besuch des Kurfürsten in Artern gespannt sein, der prächtige Triumphbogen und die Kutsche mit den sechs Hengsten konnten nicht ihre kindliche Bewunderung erregen – der Grabhügel der Mutter ist noch frisch auf dem Friedhof an der Veitskirche. Der Beginn der Unstrutschiffahrt, die neuen Wehre, die Fortschritte in der Salzgewinnung werden sie nicht begeistern. Ihr Vater ist schwer krank und nur zu bald trägt man auch ihn vom Weißbäckerhaus hinaus auf den Friedhof. Dorothea bekommt nach der Sitte der Zeit zur Stiefmutter einen Vormund. Sie lernt ertragen. Das ist eine harte Arbeit für eine Dreizehnjährige. Wie viel Trost und Zuspruch ihr die Kirchenlieder geben, ist schwer abzuschätzen. Sie muss begreifen, dass ihre materielle Lebensgrundlage die Weißbäckerei Meyer ist, und hoffen, dass ihr 23jähriger Bruder Georg Christoph, gerade erst von der Wanderschaft zurück, den Betrieb halten kann. Im Jahr 1800 heißt es im Zunftbuch: "Meister Meyer bleibt rest" – das heißt, der Bruder ist Meister geworden. Dass er seinen Quartalsbeitrag an "das Handwerg" schuldig geblieben ist, ist nicht so schlimm. Die Innung stundet es ihm. Die Geldsumme für die Gewinnung des Meister-Rechts hat er offenbar richtig bezahlt.

Die 14jährige Maria Dorothea wird in der Bäckerei helfen wollen und müssen. Mitarbeit im Familienbetrieb ist selbstverständlich. Der evangelische Glaube betont Gehorsam und Pflicht. Manches macht aber auch Spaß. Vielleicht geht sie Sonntags, sooft es das Wetter erlaubt, hinaus aus der Stadt zum Waldrand des Voigtstedter Gutes, um Besuchern und Zaungästen des "adligen Bades" beim Molchsbrunnen Gebäck zu verkaufen. Vielleicht kommt da ein 17jähriger Glaserlehrling vorbei und neckt sie. Er heißt Günther Friedrich Allendorf. Sie kennt ihn schon von der Schule. Sein Vater, der Glasermeister Allendorf, wohnt auch in der Altstadt. Natürlich hat Günther kein Geld, um ihr etwas abzukaufen. Aber vielleicht teilen sie sich am Abend die Krümel im Korb. Solche Dinge stehen nicht in den Akten. Und es ist ebenso gut möglich, dass Dorothea damals für einen der schmucken Husaren schwärmte und von Günther Allendorf gar nichts wissen wollte.

Sicher wird Dorothea evangelisch konfirmiert und zum Abendmahl zugelassen. Sicher endet damit ihre Schulzeit. Eine Ausbildung wird sie nicht erhalten, sie bleibt als billige Hilfskraft in der Bäckerei. Sie bleibt lange dort, wahrscheinlich wird sie sehr gebraucht. Wahrscheinlich auch geht es mit den Heiraten der Schwestern dem Alter nach. Der Betrieb kann die Aussteuern für Töchter nur nach und nach erübrigen. Als fünfte lebende Tochter muss sie sich gedulden. Das Leben geht seinen Gang, sie folgt ihm, gehorsam.

1800 und 1801 gibt es schlechte Getreideernten. Natürlich sind die Bäcker betroffen. Korn wird rationiert, Branntweinbrennen verboten, um einer Hungersnot vorzubeugen. 1802 aber ist die Ernte so gut, dass man wieder sorglos backen kann und 1803 sogar im Stadtrat den Bau einer Braudarre plant, wo Gerste zu Malz verarbeitet und trocken und luftig aufbewahrt werden soll. Bier und Brot sind Grundnahrungsmittel. Die Zeiten haben sich inzwischen verdüstert. 1804 ist Napoleon Kaiser geworden und droht den europäischen Staaten mit Krieg. Nachdem er sich lange mit England herumgeschlagen hat, überschreitet er den Rhein. Ob Dorothea sich Sorgen macht, kann man nicht wissen. Es wird gekämpft, aber das ist weit weg. Dorothea besitzt keine Landkarte. Die große Teuerung, die 1805 vor dem Krieg herläuft, merkt aber auch sie. "Meister Meyer bleibt rest" heißt es wieder im Zunftbuch dieses und auch des nächsten Jahres. Zwar gibt es in der Bäckerei immer genug zu essen, aber der Verdienst sinkt. Als die Stadtverwaltung den Armen Korn zuteilt, kommt die Versorgung der Bedürftigen mit Getreide schließlich auch dem Handwerk zugute.

So kommt das Jahr 1806 heran, das Jahr, das alle Chronisten von Artern, ja von ganz Deutschland als aufregend, erschütternd, schrecklich schildern. Dorothea wird in diesem Jahr, genau am 18. September zwanzig Jahre alt. Zwei Tage später ziehen die Arterner Husaren in den Krieg gegen Napoleon. Dorothea schaut ihnen nach. Sie wird voll erblüht sein, wie es ihrem Alter entspricht, und auch, wenn sie nicht schön ist, ein erfreulicher Anblick. Kräftig wird sie sein, weil sie viel arbeitet, nüchtern, weil sie nicht verwöhnt ist. Aber gerade diese Art Kraft und Klarheit bewirken vielleicht ihre politische Zurückhaltung. Da sie weiß, dass sie keinen Einfluss nehmen kann, verschwendet sie keinen Gedanken an Sachsen und Preußen, an Napoleon und Alexander, den Zaren von Russland. Sie betrachtet es praktisch: Brot, Semmeln und Kuchen werden mehr gebraucht als sonst.

Einquartierungen, Durchmärsche von Truppen, Lieferungen an auf den Dörfern übernachtende Soldaten bedeuten zusätzliche Arbeit, aber auch Geld. Die Franzosen liefern gestohlenes Getreide. Sie lieben besonders weißes Brot. Auch die deutschen Stämme in ihrer Grande Armée müssen mit dem zufrieden sein, was gebacken werden kann. Vorsichtig muss sie sein als junge Frau unter so viel Männern, aber sie weiß, wie sie sich Respekt verschafft. Sie muss die Lieferzettel sammeln, wenn sie kein bares Geld bekommt. In diesem Chaos auf den Arterner Straßen, in diesem dauernden Durchzug von fremden Menschen im Hause muss sie die Ordnung im Kopf bewahren. Vielleicht lernt Dorothea nun rechnen. Die Preußen werden bei Jena und Auerstädt vernichtend geschlagen, Besiegte ohne Waffen, Verwundete, Gefangene und ihre Bewacher ziehen durch Artern. Verzweiflung, Leid und Tod sind an der Tagesordnung. Aber alle verlangen Brot. Die Bäcker backen. Der sächsische Kurfürst wird König und Napoleons Vasall, die Stadt Artern hat drückende Schulden, viele Ackerbürger verarmen, weil sie den Schaden auf ihren Feldern und die Fuhrdienste nicht ersetzt bekommen, aber essen müssen die Menschen trotzdem und die Bäcker backen Brot.

1807 macht der Rat von Artern Bestandsaufnahme, berechnet die Einquartierungskosten. Die Bäcker-Innung reicht ihre Lieferzettel ein und zahlt mit dem erlösten Geld ihre Schulden für das Heimbackhaus ab. "Artern den 24. November 1807 ist von einem Ehrsamen Handwerke beschlossen worden sämtliche Schulden wegen dem Heimbackrechte auf folgende Art zu bezahlen…". Dreizehn Bäcker von Artern unterschreiben den Beschluss. An zehnter Stelle steht Dorotheas Bruder Georg Christoph Meyer. Nun gehört das schon 1785 dem Kurfürsten abgekaufte Heimbackhaus der Arterner Bäckerinnung ganz. Das ist eine wichtige Investition in die Zukunft, aber im Augenblick ist das Bargeld der Bäcker abgeschöpft. Ist damit die Auszahlung von Dorotheas Aussteuer erst einmal unmöglich gemacht? Oder ist das Mädchen nach Ansicht seines Vormundes sowieso noch zu unreif zum Heiraten?

Der Glasergeselle Günther Allendorf ist auf Wanderschaft. Das Leben in Artern geht wieder einen ruhigeren Gang. Dorothea passt sich an. Dass die Arterner als Sachsen nun zu den Verbündeten Napoleons gehören, nimmt die junge Frau hin wie ihre Mitbürger auch. Die Frechheit von "König Lustik", dem Bruder Napoleons, bei seinem Besuch in Artern am 24. Juni 1809 mag auch Dorothea geärgert haben. Was bildet der sich ein? Dass in ganz Sachsen jetzt nach französischer Sitte eine Gendarmerie gegründet wird, findet sie hingegen wahrscheinlich gut. Mehr Sicherheit auf den Straßen kann nicht schaden, wenn eine Bäckertochter sich auch außerhalb des Hauses bewegen möchte.

Ob Dorothea manchmal tanzen geht, mit noch unverheirateten Schwestern, Kusinen, Nachbarinnen? "Die Röcke waren noch kurz, zum ‚Drehen’. "Am Salzdamm in der alten Dammschenke wurde nun viel in einem frischen Sälchen gewalzt", schreibt Ewald Engelhardt. Dorothea, die arbeitsame, tanzt. Es ist die einzige Erholung der jungen Leute aus dem Handwerkerstande. Die Puppenspiele kämen auch in Frage und natürlich die Märkte. Die Liebhabertheater und Lesevereine hingegen stehen sicher nur den bürgerlichen Kreisen offen.

Um das Jahr 1810 ist Günther Allendorf von der Wanderschaft heimgekehrt. Er trifft Dorothea, vielleicht auf einem Erntetanz. Was auch immer zwischen ihnen beiden früher gewesen sein mag oder auch nicht: Jetzt begehrt er sie. Dorothea, die nachgiebige, wird im Oktober 1810 von ihm schwanger. Im Januar 1811 werden die beiden es wissen. Im Februar 1811 wird geheiratet. Dann weiß es die ganze Altstadt.

Ob es ein Skandal war für Artern in dieser Zeit oder ob es öfter vorkam, kann ich nicht sagen, weil ich noch viel zu wenig über das Heiratsverhalten der Arterner Jugend zur napoleonischen Zeit erkunden konnte. Immerhin war Dorothea 24 Jahre alt und Günther 27 - die beiden waren nun wirklich keine Kinder mehr! Auch früher war es in manchen Gegenden üblich, erst zu heiraten, wenn ein Baby unterwegs war. Die Familie wollte wissen, ob sie mit Nachkommen rechnen konnte. In manchen Gegenden ist es auch ein Druckmittel des liebenden Paares: Sollte etwa die alte Frau Allendorf, geboren aus der sehr angesehenen Glaserfamilie Jahn, Dorothea nicht für eine passende Schwiegertochter gehalten haben, dann wurde sie nun vor vollendete Tatsachen gestellt. Sollte Dorotheas Vormund fordern, dass Günther vor der Hochzeit Meister werden müsse, so war das nun vom Tisch. Und sollte der Bäckermeister George Meyer etwa immer noch nicht bereit sein, seine Schwester auszuzahlen, so war er nun dazu gezwungen. Aber das alles kann ich nur vermuten. Meine Urur-Urgroßmutter wusste, wie alles kam. Aber sie verrät es mir nicht. Wie weit bin ich doch von ihr entfernt!

1811 ist ein großschweifiger Komet am Himmel über Artern erschienen. Am 3. Februar 1811 hat die Bäckerstochter Dorothea Meyer den Glaser Günther Allendorf geheiratet. Am 29. März 1811 brannten etwa 20 Häuser in der Altstadt ab. In der Marienkirche wurde bei der Renovierung im Empirestil die barocke Rückwand des Altars zerschlagen. Und am 9. Juni 1811 wurde der erste Sohn der Allendorfs, Friedrich, getauft. Der Großvater Glasermeister Theodor Allendorf ist Pate. Was für ein wichtiges Jahr für meine Vorfahrin Dorothea! In der Geschichtsschreibung ihrer Stadt aber verschwindet es hinter den folgenden, den Jahren 1812 und 1813.

Manchmal wird von den Chronisten Arterns beklagt, dass es abseits der Handelswege gelegen habe. Abseits der Wege Napoleons aber lag Artern überhaupt nicht. Dieser Feldherr, dem das Wort zugeschrieben wird, der Soldat müsse sich aus dem Lande nähren, ließ seine Soldaten in einem breiten Streifen von 40 Kilometern marschieren, damit sie sich bei der Fourage nicht gegenseitig behinderten. So war es 1806 gewesen, als Napoleon gegen Jena und Auerstädt rückte, so war es 1812, als Napoleon den Feldzug gegen Russland vorbereitete. Monatelang zogen Militärs aller Waffengattungen und vieler Nationen durch Artern.

Dorothea erlebt das anders als Frau eines Glasers als vorher als Bäckerstochter. Und sie erlebt es anders als junge Mutter als zu der Zeit, wo sie noch Mädchen war. Wahrscheinlich weiß sie inzwischen mehr von öffentlichen Dingen. Aber ich fühle doch wieder, wie weit ich von Dorothea entfernt bin. Sachsen war mit dem Kaiser der Franzosen verbündet. Die Arterner Husaren zogen mit in den Krieg. Ich lese, dass man damals Napoleon für ein Genie und für unbesiegbar hielt. Hat also auch Dorothea geglaubt, dass bald ein Europa unter Napoleons Herrschaft entstehen werde? War sie siegesgewiss oder deprimierte sie diese Aussicht? Besitzt sie die Skepsis der Nachgiebigen? Vertraut sie auf Gottes Hilfe? Sie stillt ihr Kind. Wenn man in Engelhardts Heimatbuch von den endlosen Durchzügen liest, den wochenlangen Einquartierungen, von den hohen Summen, die erpresst oder geraubt wurden, kann man sich kaum vorstellen, wie die Bevölkerung überleben konnte. Allein der Abfall und Schmutz so vieler Tiere und Menschen muss die Stadt entstellt haben. Die Infektionsgefahr war hoch. Die Archivakten aus dieser Zeit enthalten genau die Truppengattungen, ihre Stärke und die Menge der verbrauchten Güter. Sie enthalten Listen der Anspänner und der stark strapazierten Boten. Die Bedrückungen der Saline sind dokumentiert. Jedoch die Lieferantennamen und die Einquartierungslisten fehlen. So kann man den Belastungen und Verlusten einzelner Handwerkerfamilien nicht nachforschen.

Dass die Menschen in der Stadt überlebt haben, wie das Kirchenbuch bezeugt, dass sogar geheiratet wurde und Kinder getauft, erklärt sich dadurch, dass der Soldat nicht spart. Wenn er Geld hat, gibt er es auch aus. So entsteht ein Handel außerhalb der Legalität, an dem auch die Bürger teilhaben, Bäcker, vermute ich, mehr als Glaser – aber immerhin: Dorotheas Schwangerschaft im Jahr 1813 verläuft normal, sie "versieht" sich nicht an den Elendsgestalten, die im Frühjahr aus dem russischen Winter zurückkehren, sie lässt sich nicht erschüttern durch Baschkiren und Kosaken, die nun die Verbündeten der Preußen und Österreicher sind, sie bringt im September ein gesundes Kind zur Welt und Günther Allendorf macht endlich sein Meisterstück. Als kurz vor der Völkerschlacht bei Leipzig der zweite Sohn der Allendorfs am neuen steinernen Taufbecken in der Marienkirche getauft wird, wird der Vater als "Meister Günther Friedrich Allendorf jun." ins Kirchenbuch eingetragen. Der Täufling ist Karl, mein Ururgroßvater. Seine Paten sind der Schuhmacher Kühn, Katharina Rüdiger, geb. Gebler von der Ölmühle und des Vaters einzige Schwester Jungfrau Maria Sophia Allendorf.

Noch sind alle, die sich in der Kirche um den Taufstein versammeln - Dorothea wird nicht dabei sein, sondern nach alter Sitte das Kindbett hüten - sächsische Staatsangehörige. Wenn das mit Gefühlen verbunden ist, müssten sie bei dem Aufzug der Truppen zur Völkerschlacht bei Leipzig innerlich an der Seite der sächsischen Regimenter stehen. Die aber kämpfen und sterben für Napoleon. Dorothea und ihre junge Familie sind mit ihrer Stadt in ein unlösbares Dilemma gekommen. Die Preußen werden sie noch viele Jahre später nicht leiden können, aber die Herrschaft des Franzosenkaisers wollen sie auch nicht länger ertragen. Die Geschichte des Arterner Helden Mertens zeigt trefflich, wie verwirrend die Lage war. Eigentlich gegen seinen Willen hilft der junge Anspänner dem Freicorps der Schwarzen Husaren, die Kuriere Napoleons abzufangen und damit die Truppenstärke Napoleons im entscheidenden Treffen zu verringern. Aber nach der Völkerschlacht bei Leipzig sind alle Arterner stolz auf ihn.

Karl Allendorf, der Sohn von Dorothea Meyer, wächst in einer veränderten Welt auf. Im zweiten Lebensjahr wird er dank der Entscheidungen des Wiener Kongresses zusammen mit seinen Eltern Preuße. Der Dank an Gott für die Befreiung vom französischen Joch prägt seine Jugend. Neue Kreiseinteilungen, neue Schulordnungen, neue Steuersysteme, die heraufdämmernde Gewerbefreiheit bestimmen seinen Lebenshorizont. Als mein Ururgroßvater um 1835 als Glasergeselle auf Wanderschaft geht, gehört er einem großen selbstbewussten Staatswesen an. Er fühlt sich sicher noch als Sachse, aber er ist Preuße.

In Koblenz, wohin ihn seine Wanderschaft führt, trifft er ebenfalls auf "Neu-Preußen". In den Zunfthäusern dort, wo der rheinische Dialekt überwiegt, werden Glasergesellen aus Nordsachsen, Westfalen und vom Mittelrhein über Preußen schimpfen wie heute junge Deutsche und Franzosen über die Europäische Union. Aber die Chancen, die der größere Rahmen bietet, nehmen sie doch an. Dem Arterner Karl Allendorf bietet sich die Chance, in Koblenz eine Glaserei zu gründen. Als er sich dort auch verheiratet, kehrt er endgültig seiner Heimat den Rücken. Von da an gehört er dem Westen. Was nimmt Karl Allendorf aus Artern mit? Die weiche Aussprache des Deutschen, Familienwörter, sächsische Rezepte, die Tradition östlichen Glaser-Handwerks und - die evangelische Konfession seiner Eltern. Die Marienkirche von Artern, in der seine Vorfahren Allendorf und Jahn, Meyer und Zeise getauft und getraut wurden, blieb prägend auch für sein Leben in der Fremde. Das zeigt sich daran, dass Karl im katholischen Koblenz sich zur evangelischen Kirche hielt und dort auch eine evangelische Frau suchte und fand: Philippine Zimmermann aus Bacharach.

Die Tochter aus dieser Ehe, Philippine Allendorf, ist meine Urgroßmutter. Von Fotos kenne ich ihr kluges, ernstes Gesicht. Ob sie Dorothea Meyer ähnlich sah? Philippine war so überzeugt evangelisch, dass sie bei ihrer Heirat mit Peter von Mering zur Bedingung machte, dass die gemeinsamen Kinder evangelisch getauft würden. Alle andern von Merings sind katholisch. Meine beiden Brüder und ich samt unsern Nachkommen sind die einzigen dieses Stammes, die evangelisch sind – und damit stehen wir in der Tradition der Maria Dorothea Meyer, verheiratete Allendorf aus Artern. Wenn ich die alten Choräle der evangelischen Kirche singe, lächele ich ihr zu, meiner so weit entfernten Urur-Urgroßmutter.