Der Dreißigjährige Krieg in Dippoldiswalde
Christa Lippold
Zuerst veröffentlicht in: EKKEHARD, Familien- und regionalgeschichtliche Forschungen,
Neue Folge 25 (2018), Heft 3
Nur wenige Familienstämme kann ich bis in den Dreißigjährigen Krieg zurückverfolgen. Meist fehlen schon vorher Kirchenbücher, so dass eine sichere Generationenfolge nicht aufgebaut werden kann. Dann ist für mich die Forschung zu Ende. Frühere Quellen mögen zwar den Familiennamen am gleichen Ort bezeugen. Doch ob diese Namensträger Vorfahren sind, kann man nur vermuten. Auf dieses Terrain werde ich mich erst dann begeben, wenn alle sicheren Vorfahrenbäume dargestellt sind.
So bleibt der Dreißigjährige Krieg in meiner Familiengeschichte ein schmales Kapitel. Der Kölner Domherr Dr. Henrich Mering ist eine Ausnahme. Erstens ist er kein Vorfahr, zweitens hat er Rang und Namen. Er verdankte den Friedensverhandlungen in Münster seine berufliche Reputation. Als Bürochef des päpstlichen Nuntius, des späteren Papstes Alexander VII., Fabio Chigi (1599-1667, s. Abb.),1 erwarb er über sein juristisches und theologisches Studium hinaus die Qualifikationen, die ihm die Praebende am Dom von Köln erreichbar machten. Insofern könnte man sagen, ihm habe der Dreißigjährige Krieg genützt. Dieser Nutzen macht sich bis heute bemerkbar: Historiker haben ihm Aufmerksamkeit gewidmet und ich, die späte Familienforscherin, kann über ihn schreiben.2
Das gilt nicht für seinen Vater, unsern Vorfahren Hendrik Merinck. Als Kaufmann in Köln hat er sicher mehr vom Leid des Krieges erfahren. Und von seiner Tätigkeit ist entsprechend wenig überliefert. Doch hat der jüngste seiner Söhne, der wieder unser Vorfahr ist, nämlich der Mediziner Dr. Theodor Meringh, zwar in seiner Kindheit zwischen 1631 und 1648 manchen Schrecken erlebt, konnte aber später als Professor der Medizinischen Fakultät in Köln ein relativ gesichertes Leben führen.3
Bei den Benders in Leipzig, die ebenfalls unsere Vorfahren sind, ist schwer zu sagen, wieviel sie gelitten haben. Als Windenmacher haben sie anscheinend immer Arbeit gehabt, vielleicht ebenso bei den Verteidigern der Stadt wie bei deren Eroberern. Sie konnten gleich nach Kriegsende unsern Vorfahren Johannes Bender auf die Universität schicken.4 Waren sie etwa Kriegsgewinnler?
Gelitten haben die Eisleber. Drei Vorfahren sterben an der Pest. Was die Stadt durchgemacht hat, muss ich noch erforschen. Da ich in Eisleben viele Vorfahren habe, könnte ihr Schicksal exemplarisch sein.
Die Dippoldiswalder Lehmans haben bestimmt Raub, Plünderungen und Pest erlebt. Sie waren eine zahlreiche Sippe, meist im Handwerkerstande, Schlosser, Bäcker, Müller, Lohgerber. Der genaue Stammbaum lässt sich aber nicht erschließen, da die Kirchenbücher von 1601 bis 1632 zum ersten Mal 1632 beim Sturm durch den wallensteinschen General Holk (1599-1633, s. Abb.)5 zerstört wurden, und die mühsam begonnenen Nachschriften 1634 beim erneuten Einfall kaiserlicher Truppen mit allen Gebäuden, auch Schloss und Kirche, in Flammen aufgingen.6
Dass Dippoldiswalde ein Schloss hatte (s. Abb.), lag an der Amtshauptmannschaft und der Garnison des sächsischen Kurfürsten. Außerdem war Dippoldiswalde eine Handwerker- und Bergwerksstadt. Handwerkswaren und Silber gingen nach Nord und Süd, nach Ost und West. Im Dreißigjährigen Krieg benutzten die Truppen aller Seiten die alten Handelswege von Prag nach Meißen, von Freiberg nach Görlitz. Der Reichtum der Stadt wirkte zusätzlich als Magnet auf die Soldaten. Mehr als die Hälfte der Einwohner kam um.
Ob mein Vorfahr, der Schwarzfärber Johann Lehman, aus Dippoldiswalde stammte, kann ich nicht beweisen. Wenn ja, hat er in Kindheit und Jugend wohl gute Jahre gehabt. Dippoldiswalde hatte etwa 1800 Einwohner, Kirche, Schloss und Rathaus waren in prächtigem Zustand. Silbergruben, die zum Teil in der Stadt lagen, brachten Gewinn. Das Handwerk blühte. Nach den nach dem Krieg neu aufgestellten Zunftsatzungen müssen vor 1632 Bäcker, Fleischer, Töpfer, Tuchmacher, Tuchscherer und Scherenschleifer, Bortenwirker, Schuster, Gerber, die Schlosser, zu deren Zunft auch die Büchsen- und Uhrmacher gehörten, Böttcher, Zimmerleute, Maurer, sowie Zinngießer ihre eigenen Zunftladen in Dippoldiswalde besessen haben.7 „Als Haupteinnahme der Stadt werden 50 Schock und 12 Groschen aus der Bürger- und Meisterrechtsgewinnung und von der Lehrlingsaufnahme, also hauptsächlich vom Handwerk aufgeführt.“8 Auch Hans konnte ein Handwerk erlernen, kein häufiges, aber ein in jeder Tuchmacherstadt sehr wichtiges: die Schwarzfärberei. Gute Tuche mussten schwarz sein. Und Schwarzfärben ist, so habe ich in einem modernen Ökoprospekt gelesen, auch heute noch ein aufwendiges, viel Wasser verschlingendes Verfahren (Stadtansicht s. Abb.).9
Schon 1570 ist die Schwarzfärberei in Dippoldiswalde bezeugt.10 Das Färbehaus war Eigentum des Kurfürsten. Der Amtsschösser betrieb die jeweilige Verpachtung an einen Mann der Zunft. Es lag an der Weißeritz, des großen Wasserbedarfs wegen, und damit außerhalb der Stadtmauern.11 Es gab nur diese eine „Schwarzfarbe“ – obwohl man davon ausgehen muss, dass wie in der Lohgerberei so auch beim Färben viele Hände gebraucht wurden, also Angestellte unbedingt dazu gehörten: Gesellen, Lehrlinge, vielleicht auch ungelernte Hilfskräfte.12
Knebel schreibt: „1627 wird der Schwarzfärber Ledel genannt, der sich 301 Gulden aus der Steuer jedenfalls zur Entwickelung der Alten Farbe lieh. 1634 ward die Schwarzfarbe zerstört.“13 Der Schwarzfärber zur Zeit der Kriegsgräuel 1632 bis 1634 heißt Christian Lödell. Man kann vermuten, dass er bei der Zerstörung seines Arbeits- und Wohnplatzes umgekommen ist. Jedenfalls wird „die Schwartzfarbe“, wie die Werkstatt samt Wohnhaus genannt wird, ein Raub der Flammen. Mein Vorfahr Hans Lehman entkommt – oder ist als Geselle noch auf Wanderschaft. 1637, mitten im Dreißigjährigen Krieg, ist er zur Stelle und kauft von Hans Lödell, dem Sohn Christians, die „hinterlaßene Schwartzfarben Brandtstadt nebst den zugehörigen Gärten und einem Stück Acker an der Heyden“.14 Dafür zahlt er 300 Reichstaler „Ambtssteuer, die er im Churfl. Ambte versichern und zu Michaelis Anno 1637 zum ersten verzinsen will und zugleich 7 guter Schock Stamm in die geistliche lehen und 1 Schock Stamm der Stadtkirchen gleichermaßen“. Für die Zahlungen steht er mit seinem Vermögen gerade. An dem Vertrag merkt man deutlich, dass sowohl die Stadt Dippoldiswalde als auch das Kurfürstliche Amt ein großes Interesse am Wiederaufbau der Färberei haben. Konrad Knebel formuliert: „da die Tuchmacher ohne sie nicht auskommen konnten“. Aus dem schwarzen Tuch wurden auch Uniformen gemacht! Ich vermute, dass bei dem Vermögen von Hans Lehman die Mitgift seiner Frau Anna eine Rolle spielt.
Den schnellen Wiederaufbau der öffentlichen Gebäude hat Hans Lehman mitgetragen, denn dass der Stadt die Land- und Tranksteuer gnädig erlassen wurde,15 bedeutete nicht, dass Hans als Bürger sie nicht hätte zahlen müssen. Sie wurde nur um die Hälfte ermäßigt und zum Wiederaufbau der öffentlichen Gebäude in Dippoldiswalde verwendet, statt wie sonst durch den Amtsschösser nach Dresden abgeführt.
Sein Sohn Samuel wird 1638 noch in der alten Nikolaikirche getauft, aber Gabriel kann 1640 schon wieder in der Stadtkirche (s. Abb.) getauft werden, denn Weihnachten 1638 war sie nach den wichtigsten Reparaturen wieder geweiht worden. Der Zimmermeister Strehl aus Reichsstädt hatte bereits 1636 den Dachstuhl wieder gerichtet, Samuel Heber von Finsterwalde hatte 1637 Gewölbe, Fenster und Türen mit heiteren Blumenranken bemalt. Sogar eins der Glasfenster war schon wieder ersetzt! Und aus der geschmolzenen Glockenspeise, die sich im Schutt fand, hatte der Glockengießer Martin Berger aus Dresden schon Ende September 1637 drei neue Glocken gegossen. Bewunderungswürdig die Energie, mit der die verarmte und dezimierte Bürgerschaft vorging. Die anderen Fenster freilich und die Kassettendecke im Chor wurden erst nach den Taufen von Samuel und Gabriel Lehman fertiggestellt. „Noch mangelte vieles.“16
Und es herrschte keineswegs Sicherheit. Zwischen 1641 und 1646 muss der Schwarzfärber mit seiner Familie noch manches Mal geflohen sein wie so viele Einwohner aus der Ruinenstadt Dippoldiswalde, denn gerade die Taufe meiner Vorfahrin Dorothea, seiner einzigen Tochter, steht nicht im Kirchenbuch. Wer weiß, wer sie in welchem Notquartier getauft hat? Sie muss in diesen Jahren geboren sein, denn 1647 wird ihr Bruder Daniel geboren und danach ist das Kirchenbuch wieder ganz vollständig geführt.
Ich kann mir das Ehepaar Anna und Hans Lehman am 22. Juli 1650, „als das Land endlich von allen fremden Kriegsvölkern vollständig geräumt war“,17 beim allgemeinen Friedensfest in Dippoldiswalde gut vorstellen. Sie hatten es überstanden, schwer genug, aber doch. In zünftigen Festkleidern hörten sie die Predigt im Frühgottesdienst über Psalm 68, Vers 20 und 21: „Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft sie uns auch tragen.“ Vielleicht kamen ihnen die Tränen, in der Erinnerung an all das Grauen, in der schüchternen Freude des Überlebens. Ihre Söhne sind 12, 10 und 3 Jahre alt, ihre Tochter Dorothea, meine nächste Vorfahrin, ungefähr 6. Das Friedensfest werden die Kinder nicht vergessen. Sicher gibt es Semmeln für die Kleinen und Freibier für die Erwachsenen.
Hans Lehman, der Schwarzfärber in Dippoldiswalde, stirbt 1661, offenbar auf einer Reise. Vielleicht hat eine der dem Krieg folgenden Epidemien ihn hingerafft! Seine Witwe Anna verlässt die Werkstatt an der Weißeritz, kauft am 8. Januar 1662 für 145 Gulden ein Haus am Obern Tor der Stadt in der Nähe der Nikolaikirche18 und überlässt am 29. Mai 1663 die Schwarzfarbe ihrem Sohn Gabriel, der wieder Schwarzfärber ist – wenn auch nicht Meister. Am 24. Oktober 1662 hat er das Bürgerrecht erlangt und am 11. November 1662 die Tochter des Amtsboten, Maria Lohse, geheiratet. Der Sohn zahlt seiner Mutter im ganzen 515 Gulden für die Werkstatt „mit aller darauf bestehenden freyheit undt beschwerung“, davon 150 Gulden bar, wovon 100 Gulden für die „darauf haftende“ Amtssteuer sind, und den Rest in jährlichen Raten von 24 Reichstalern.19
Es gibt Hoffnung, dass der Betrieb gut läuft. Denn am 29. Mai 1668 ersucht Nicol Berger, Schwarzfärber, um sein Bürgerrecht und erhält es auch. Er legt das Zeugnis seiner ehelichen Geburt vor und zahlt 10 Reichstaler.20 Das hätte der junge Mann wohl nicht getan, wenn er nicht eine feste Anstellung bei Gabriel Lehman gefunden hätte.
Dorothea Lehman, die einzige Tochter von Hans Lehman, verbringt ihre Jungmädchenzeit mit ihrer Mutter am Obern Tor. Wahrscheinlich zieht es sie oft zu den jungen Leuten an der Weißeritz. Vielleicht lernt sie bei ihnen den Sattler Hans Christoph Bercht kennen. Aber natürlich kommt auch eins der Stadtfeste als Treffpunkt in Frage. Denn allmählich wird nun auch wieder gefeiert im noch immer teilweise von Brandstätten gezeichneten Dippoldiswalde.
Die Sattlerfamilie Bergicht oder Bercht, in die meine Vorfahrin Dorothea einheiratet, hat sich erst nach dem Dreißigjährigen Krieg in Dippoldiswalde niedergelassen. Wenn man bedenkt, dass die Stadt zwischen 1575 und 1618 immer um 1800 Einwohner hatte und 1644 nur noch 932, dass von 12 Ratsherren nur 3 überlebten, kann man verstehen, dass Zuzug willkommen war. Zu einem Wiederaufbau brauchte man Menschen.
Caspar Bergicht, der Sattler, wurde am 3. Januar 1651 Bürger von Dippoldiswalde, mit seinen beiden Söhnen Hans Christoph und Andreas, die in das Bürgerrecht eingeschlossen wurden. Bergicht zahlte dafür „3 gute Schock“ in die Stadtkasse, das „gute Schock“ zu 60 „guten Groschen."
Im Bürgerbuch steht, dass er aus Waldenburg kam. Das könnte Waldenburg in Sachsen sein, es kommt aber auch Waldenburg in Schlesien in Frage. Dann wäre Caspar Bergicht ein Exulant – denn Schlesien fällt bei den Friedensverhandlungen 1648 an den Kaiser in Wien und der setzt sofort ein mit der Rekatholisierung, nach dem Motto: „Cuius regio, eius religio“. Möglich, dass die protestantischen Bergichts ins gut lutherische Dippoldiswalde geflohen sind. Wobei noch zu beachten ist, dass beim Sterbeeintrag von Caspars Frau Elisabeth die geheimnisvolle Angabe steht: „der gebuhrt von Sarba-Ernheim bei Straßburg gelegen“. Sehr viel spricht dafür, dass Ernolsheim bei Zabern gemeint ist, heute Ernolsheim-les-Saverne. Es hat evangelische Kirchenbücher, aber die reichen nicht bis 1603 zurück. Denn auch Ernolsheim-les-Saverne ist im Dreißigjährigen Krieg grausam zerstört worden. Und der Frieden von Münster und Osnabrück, der für Sachsen doch wirksam ist, hat auf das Elsass so gut wie keinen Einfluss – dort geht der Krieg noch eine ganze Weile weiter. Elisabeth kann froh sein, in Dippoldiswalde zu wohnen! Eins ist ersichtlich: der Dreißigjährige Krieg und seine Folgen haben die Menschen herumgewirbelt.
Caspar Bergicht kauft 1651 eine Brandstätte in Dippoldiswalde von der zahlreichen Erbengemeinschaft des Bürgers Gabriel Friedrich, die das Grundstück versteigern lassen musste.22 Keiner der Erben war imstande, die andern auszuzahlen, geschweige denn, selbst zu bauen. Ihre Namen sind sicher alte Familiennamen in der Stadt: Hegewaldt, Fischer, Bayer, Jungnickel, Clement, Burkhard, Schlegel, Henen, Hüfner, Schaller und Tronckner. Die meisten sind über ihre Frauen Erben. Das Grundstück liegt in der Schmiedegasse. Caspar Bergicht hat Geld mitgebracht, vielleicht gerade noch rechtzeitig sein Anwesen in Waldenburg verkauft. Er zahlt 100 Gulden für das Grundstück und baut eine Sattlerwerkstatt mit Wohnung.
Hans Christoph Bercht wird Sattler wie sein Vater. Am 25.10.1666 wird er Bürger von Dippoldiswalde, am 11.11.1666 heiratet er die einzige Tochter des Schwarzfärbers Hans Lehman, Dorothea, die damals etwa 22 Jahre alt gewesen sein dürfte. Passte diese Ehe in die neuzugezogene Familie dem Bruder Gabriel Lehman und seiner Mutter nicht ganz in die Pläne? Oder gab es Schwierigkeiten mit dem Bürgerrecht? Die Heirat war zwar noch rechtzeitig, aber eben doch knapp genug, so dass der Pfarrer sich nicht enthalten kann, bei der Taufe des ersten Kindes ins Kirchenbuch einzutragen: „NB Anna Elisabeth 26 Wochen nach der Hochzeit“.
Vermutlich lebt das junge Paar in der Wohnung der Schwiegereltern Bergicht, über der Sattlerwerkstatt, im eng geschachtelten Handwerkerviertel in der Schmiedegasse. 1666 sind sicher noch längst nicht alle Häuser der Stadt wieder aufgebaut, aber die Kirche hat bereits ihren neuen Taufstein, Kanzel und Altar. Sogar eine neue Orgel ist wieder erstanden. Bei der Taufe von Anna Elisabeth Bercht, am 18. Mai 1667, sieht die Kirche schon wieder wunderschön aus - ja der Blumenschmuck der Gewölbe und das Gold der Engelsköpfe am Taufstein (s. Abb.) ist gerade so frisch wie 1999, als ich die Kirche zum ersten Mal besuche, denn nach dem Neuaufbau sind fast so viel Jahre vergangen wie nach der gründlichen Renovierung in den 1990er Jahren.
Die Großmutter Anna Lehman lebt noch bis 1670, sie hat die Taufe ihrer Enkelin, meiner Vorfahrin Anna Elisabeth Bercht, also noch erlebt.
Dorotheas Mann Hans Christoph stirbt jung, mit 31 Jahren. Ob der Jahrmarkt, der sein Begräbnis um eine Woche aufschiebt, auch mit seinem Tod zu tun hat - ob er betrunken gestürzt ist oder ob gar eine Schlägerei sein frühes Ende bewirkte, verschweigt das Kirchenbuch. Natürlich kann er auch an einer Blinddarmentzündung gestorben sein! Jedenfalls wird Dorothea nach nur 3-jähriger Ehe Witwe. Ein schwarzes Jahr ist 1670 für sie: im Februar ist ihre Mutter gestorben, im April stirbt der Mann. Sie bleibt mit ihrer kleinen Tochter Anna Elisabeth zurück. Nach sächsischem Recht steht ihr als einziger Tochter die ganze „Gerade“ ihrer Mutter ungeschmälert zu: alle Kleider, Wäsche, Schmuck, Silber und Bettzeug sind ihr Erbteil, andererseits muss sie als Witwe einen Vormund bekommen. Wahrscheinlich lebt sie weiter im Sattlerhause. Ihre Schwiegereltern sind hoffentlich nett zu ihr! Dass sie wieder heiraten wird, steht zu erwarten. Und sie tut es, 1672, am 7. Januar, morgens „früh vor der Amptspredigt“. Da ist die Schwangerschaft schon sichtbar trotz weiter Röcke. Dorothea, Dorothea! Mit dir ist es doch immer dasselbe! Und wer ist der zweite Ehemann? Wieder ein Sattler, Zunftgenosse des Schwiegervaters und des ersten Ehemanns, und wieder nicht aus Sachsen gebürtig, sondern aus Kirn an der Nahe, Hans Barthol Zeiser, gleichaltrig mit Dorothea und der Vater ihrer 5 weiteren Kinder. Wie kommt der nach Dippoldiswalde? Sein Vater war Feldtrompeter im Rheingräflichen Regiment. Der Nachkrieg hat den jungen Mann hergewirbelt, ihn, der 1646 noch unter der Kyrburg geboren wurde! Am 19.6.1672 erwirbt er Bürgerrecht in Dippoldiswalde. Die alte Elisabeth Bercht ist vielleicht froh, nach dem Tod des Sohnes einen Mann von der Nahe zum Hausgenossen zu haben. Seine Sprache, auch wenn Hans Barthol schon im Sächsischen aufwuchs, hat vielleicht doch noch etwas vom heimatlichen Klang des Westens bewahrt.
Noch etwas gibt es zum Thema Kriegswirbel. In Kobylin in der späteren Provinz Posen, damals Großpolen, habe ich 1687 bis 1751 Vorfahren, die Daniel Rother heißen, Vater und Sohn, der ältere Schmied, der jüngere Schuster. Die Evangelischen in Kobylin sind Glaubensflüchtlinge im katholischen Polen, sie stammen zumeist aus Schlesien, dessen Grenze ja ganz nah ist. Und ein Soldat „Daniel Rothe aus Schlesingen“ lässt 1643 in Dippoldiswalde seine Tochter Anna Maria taufen, gerade in den Jahren, wo die Stammbevölkerung der Stadt sich aus Angst vor der Soldateska in den Wäldern versteckt, gerade in dem Jahr, wo ich die Taufe meiner Vorfahrin Dorothea Lehman auf und nieder gesucht habe - da wird das fremde Soldatenkind in Dippoldiswalde getauft. Zwei „Corporalsweiber“ sind seine Patinnen. Ob Daniel Rothe aus Schlesingen der Vorfahr der Rothers in Kobylin war und damit mein Vorfahr ist von Mutters Seite, so wie Hans Lehman von Vaters Seite, das gehört ins Reich der Vermutungen. Aber die Taufen von Soldatenkindern im fast entvölkerten Dippoldiswalde – die zeigen, was Krieg ist.
Die Sterbebücher zu lesen, ist immer die ärgste Arbeit für den Familienforscher. Die vielen früh verstorbenen Kinder füllen Seite um Seite. Jedes Jahr, das im Trauregister 11 bis 16 Einträge enthält, ist im Sterberegister meist 4-mal so lang. Trotzdem komme ich nicht darum herum - ich muss das Sterberegister der Jahre 1635 bis 1712 lesen, wenn ich das Kapitel über den Dreißigjährigen Krieg in Dippoldiswalde abschließen will!
Anna Elisabeth Bercht wächst im Nachkrieg auf. Sie kennt Armut und Teuerung, aber auch Wirtschaftsaufschwung. Wie sie mit dem Stiefvater Zeiser zurechtkommt, bleibt unbekannt. Auf jeden Fall hat sie die Großeltern, die sehr lange leben und sicher ein Herz haben für das Kind ihres verstorbenen Sohnes. Die Großmutter Bergicht stirbt 1680, da soll sie 77 Jahre alt sein. In diesem Jahr geht die Pest in Dippoldiswalde um. Aber da kein anderes Familienmitglied stirbt, ist es wohl eher eine Alterskrankheit, der sie erliegt.
In Mansfeld und Eisleben spielt die Pest in meinen Vorfahrenfamilien Schicksal, aber die Meinen in Dippoldiswalde scheinen mit dem Schrecken davon zu kommen. Vielleicht schützt das rätselvolle Enzym, dass die Gerber vor der Pest bewahrt, auch die Sattler. Irgendetwas beim Lederverarbeiten muss dem Pestfloh zuwider sein.
Caspar Bergicht, der alte verwitwete Sattler, Großvater von Anna Elisabeth, verkauft 1683 sein Wohnhaus in der Stadt.23 Er braucht Geld zum Unterhalt, weil er nicht mehr arbeiten kann. Nach seinem Sterbeeintrag gerechnet, ist er 77 Jahre alt. 205 Reichstaler und 15 Groschen soll die Kaufsumme betragen, in jährlichen Raten von 24 Reichstalern soll Abraham Ranisch sie zahlen. Bergicht will im Haus wohnen bleiben, solange er lebt, und dafür dem Käufer 2 Reichstaler jährlich geben. Ranisch hat voraus schon an die Tochter des alten Mannes, Dorothea Jenichen, 5 Reichstaler gezahlt. Von dieser Tochter höre ich hier zum ersten Mal. Vielleicht pflegt sie ihren Vater. Bei dem Wohnhaus handelt es sich wahrscheinlich nicht um die Werkstatt mit Wohnung, die Bergicht 1651 gebaut hat. In der lebt jetzt die junge Sattlerfamilie Dorothea und Hans Barthol Zeiser mit ihren Kindern.
Die Zünfte geben sich nach und nach wieder Satzungen und lassen sie sich vom Kurfürsten bestätigen. 1684 wird beim Schützenkönigsfest schon wieder üppig geschmaust, obwohl angeblich Teuerung herrscht.24 Das Schloss wird nach und nach wiederaufgebaut, 1686 auch die Kirchtürme. Da ist Anna Elisabeth schon 19 Jahre alt. Und Großvater Caspar Bergicht stirbt am 6. Januar in seinem 80. Jahr. Sein Wohnhaus geht an Abraham Ranisch über. Für Anna Elisabeth Bercht mag das ein Signal zum Aufbruch aus der Kindheit sein.
Vielleicht ist in der Sattlerwerkstatt schon der fremde Geselle aus „Mondendorff“ tätig, Christoff Liebscher mit Namen. Er ist, wenn man seinem Sterbeeintrag trauen darf, schon 30 Jahre alt. Anna Elisabeth, die Nachkommin von Migranten, ist zum Auszug bereit. Am 23. August 1687 wird sie in der Stadtkirche von Dippoldiswalde „copulirt“ mit Christoff Liebscher, Sattler, einem „ehelich nachgelassenen Sohn weyland Joes Liebschers, Inwohner und Lehnrichter in Mondendorff sel.“25
Damit endet meine Vorfahrenzeit in Dippoldiswalde. Christoph Liebscher zieht mit seiner jungen Frau nach Neugeusing, heute Geising im Erzgebirge. Dort ist er als Sattlermeister tätig bis 1736. Das Paar hat sieben gemeinsame Kinder, geboren zwischen 1689 und 1706. Nach dem Kirchenbuch Geising wird er 78 Jahre alt, Anna Elisabeth aber muss vorher gestorben sein, denn am 19.11.1713 heiratet der Sattlermeister in zweiter Ehe Maria Schelle aus Altgeorgenfeld.
In Geising ist Anna Elisabeth Liebscher, geb. Bercht oder Bergicht, nicht gestorben. Hat sie eine Reise angetreten? Hat sie ihren Mann verlassen? Hatte sie Sehnsucht nach Dippoldiswalde?
1 Gemälde von Anselmus van Hulle 1648, Westfälisches Landesmuseum Münster.
2 Ein Epitaph im Dom zu Köln [Henrich Mering, getauft am 16. 8. 1620 in Köln, gestorben am 4. 4. 1700] in: Mitteilungen der Westdeutschen Gesellschaft für Familienkunde, Band 41, Jahrgang 92, Heft 5, Januar – März 2004.
3 Ein Bräutigam aus Köln (Dr. Theodor Meringh, 1631 – 1689 in Köln) Wipperfürther Festschrift 2017, S. 117 – 137.
4 Mein Vorfahr Johannes Bender erscheint (geboren 20. 1. 1636 in Leipzig, gestorben 3. 11. 1706 in Eisleben) in EKKEHARD, Familien- und regionalgeschichtliche Forschungen, Neue Folge 11 (2004), Heft 2, S. 53.
5 Stich von Martin Bernigeroth, nach: http://www.30jaehrigerkrieg.de/wp-content/uploads/Holk11.jpg.
6 Konrad Knebel, Geschichte der Stadt Dippoldiswalde, 1920, S. 306.
7 Ebda., S. 165f.
8 Knebel, wie Anm. 6, S. 165.
9 Wilhelm Dilich: Dippoldiswalde; [Unveränderter Nachdruck der Federzeichnung von 1628] - [Leipzig], [um 1890], im Besitz der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), Internet: http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/70400614/df_dk_0003166 (Ausschnitt).
10 Knebel, wie Anm. 6, S. 50.
11 Knebel, wie Anm. 6, schreibt: „Die Dillichsche Ansicht von 1620 läßt die Schwarzfarbe an der Weißeritzstraße deutlich erkennen“. Zu dieser Zeit könnte Hans hier Lehrling gewesen sein.
12 1647 bei der Taufe von Hans Lehmans Sohn Daniel ist ein anderer Schwarzfärber, Jacob Rost, Pate.
13 Knebel, wie Anm. 6, S. 50.
14 Gerichtsbuch Dippoldiswalde Volumen 146 (1633 – 1679), S. 40f., Deutsche Zentralstelle für Genealogie, Leipzig.
15 Knebel, wie Anm. 6, S. 306f.
16 Ebda., S. 26.
17 Ebda., S. 315.
18 Gerichtsbuch Dippoldiswalde, wie Anm. 14, S. 581.
19 Knebel, wie Anm. 6, S. 609.
20 Ebda., S. 491.
21 Das Bürgerbuch wird im Lohgerber-, Stadt-und Kreismuseum Dippoldiswalde aufbewahrt. Die Eintragungen, die daraus stammen und nicht aus dem Gerichtsbuch, verdanke ich dem ehrenamtlichen Mitarbeiter und Regionalgeschichtler Peter Voß.
22 Gerichtsbuch Dippoldiswalde, wie Anm. 14, ohne Seite.
23 Gerichtsbuch Dippoldiswalde , wie Anm. 14, ohne Seite.
24 Knebel, wie Anm. 6, S. 335.
25 Kirchenbuch von Dippoldiswalde, Trauungen von 1635 -1713.