Meine Brüder und ich, wir konnten unseren Vater nicht begraben. Er starb als Soldat bei der Schlacht um Dorpat (heute Tartu/Estland) am 21. August 1944. Sein Leichnam wurde nicht geborgen.
Unseres Vaters Vorfahr, Burgkhard Kuntzsch, starb in seinem eigenen Bett am 8. April 1667, am Ostermontag früh um drei Uhr in der Lutherstadt Eisleben. Seine Söhne und Töchter wohnten vier Tage später, am 12. April, seiner Beerdigung auf dem Stadtgottesacker von Eisleben bei.
Die Predigt, die bei diesem barocken Begräbnis gehalten wurde, ist überliefert, erstens, weil sie gedruckt worden ist, und zweitens, weil die Grafen von Stollberg Leichenpredigten sammelten und in ihrer Bibliothek aufbewahrten. Ein wunderliches Hobby – fast so wunderlich wie die Genealogie! Aber dank dieser gräflichen Sammelleidenschaft blicken wir vaterlosen Kinder auf die feierliche Beerdigung eines Vaters, die eine Generation unserer Familie vor 336 Jahren begangen hat. Unsere verschollene Trauerarbeit wird beim Lesen dieser Schriften sanft aufgehoben.
Vor mir liegt also der Text:
Speculum Patrum Credentium,
Oder
Chriſtliche LeichPredigt/
am 2. Cap. V. 11.12.13.
Weiland
gelahrten und Wohlweisen
Hn. Burgkhard Kuntzſchens/
Geweſenen StadtRichters in der Alten
Stadt Eißleben/
Umb drey Uhr im Herrn ſeelig verſtorben/ und den12. ejusdem
Chri
worden/
Gehalten und auff Begehren zum
Truck verfertiget/ von
M. Michael Emmerlingen/
Superintendenten.
M. DC. LXVII.
Eisleben/ druckts Andreas Koch.
Der interessierte Leser kann vielerlei wahrnehmen: das Druckbild und den Drucker, nämlich Andreas Koch in Eisleben, die damalige Rhetorik und die evangelische Theologie des Sterbens, die Person des Predigers, Magister Michael Emmerling, General-Superintendent der Grafschaft Mansfeld, den sozialen Status der Zuhörer "bey ansehnlichem Begräbnis", den barocken Ritus, zu dem der Brauch der "Abdanckung" gehört, und natürlich den Ort, den 1533 eingerichteten Stadtgottesacker von Eisleben mit seiner Campo-Santo-Säulenhalle, eine Errungenschaft der Renaissance. Am meisten ins Auge fällt die Zeit: das Jahr 1667 nach Christi Geburt, zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges.
Die Familienforscherin hingegen schaut zuallererst auf die "Personalia" – den Lebenslauf ihres Vorfahren, eines Menschen, durch viele Generationen so weit von ihr entfernt, dass die verwandtschaftliche Bezeichnung gar nichts mehr hergibt, und doch: ein Vorfahr. Die Großmutter väterlicherseits stammt von ihm ab. Ich lese den Lebenslauf dieses Ahns, geschildert von einem Pfarrer, der ihn zumindest in den letzten Lebensjahren gekannt hat. Und mag auch der Prediger durch Auftragsarbeit verpflichtet sein, den Verstorbenen zu loben, mag er auch als Geistlicher die Gelegenheit nutzen, die Zuhörer zu trösten, zu belehren und zum christlichen Leben zu ermahnen – so gilt doch: der Redner hat diesen Stadtrichter Kuntzsch gekannt und er kann vor den Ohren zahlreicher Zuhörer zwar übertreiben oder Unangenehmes mit Schweigen übergehen – aber ganz frei erfinden oder platt lügen kann er nicht. Denn auch die Menschen "bey ansehnlichem Begräbnis" haben schließlich meinen Ahn Burgkhard Kuntzsch persönlich gekannt.
Das gilt besonders für den ältesten Sohn des Verstorbenen, den fünfundvierzigjährigen Johann Daniel Kuntzsch, "nunmehr", wie der Prediger ausführt, "Bürger und Handelsmann zu Cöthen, welcher seinem lieben Vater anjetzo die letzte Ehre in betrübter Begleitung geben". Daniel ist mein nächster Vorfahr in dieser Reihe. Vielleicht hat er die Leichenpredigt auf seinen Vater bezahlt und drucken lassen. Denn um 1667 ist er ein wohlhabender Mann.
Organisiert hat wahrscheinlich der Bruder Christoph das Begräbnisfest. Er war am Sterbebett des Vaters gegenwärtig, ihm hatte der Vater in seiner letzten Stunde "die Hand gebothen und mit starcker ziemlich vernehmlicher Stimme demselben gute Nacht und alles Gutes gewünschet". Christoph war erst siebenundzwanzig Jahre alt, war zwar schon in Jura promoviert, aber noch unverheiratet und als Juris Practicus in Eisleben tätig. Die älteren Söhne Daniel und Gottfried mussten erst ihre Familien und Geschäfte versorgen, ehe sie nach Eisleben eilen konnten. Der einundvierzigjährige Kaufmann Gottfried Kuntzsch aus Leipzig hatte immerhin siebzig Kilometer mit seiner Kutsche zu fahren, der Weg meines Vorfahren Daniel, des Apothekers und Seidenhändlers aus Köthen, betrug ungefähr fünfzig Kilometer. Das waren, auch mit schnellen Pferden, wohl Tagereisen. Und wie war die Nachricht zu ihnen gelangt? Ein Telefon gab es nicht. Aber vier Tage nach dem Tod des Vaters, zu seinem Begräbnis, sind beide Söhne in Eisleben zur Stelle.
Die trauernde Witwe des Vaters ist weder Daniels noch Gottfrieds Mutter. Daniel hat seine Mutter Anna Elisabeth Contius kaum gekannt, sie starb ganz jung, er war erst zwei Jahre alt. Das war noch in Rossleben, in dem alten Erbsitz der von Witzlebens dort, wo der Vater Verwalter war. Er erinnert sich nur dunkel, denn der Vater zog bald mit ihm fort nach Erdeborn. Daniel war fünf Jahre alt, als er eine Stiefmutter bekam, sie hieß Magdalena Heffler, war vorher mit dem Syndicus Seemann verheiratet gewesen. Aber auch die starb, bevor er elf Jahre alt wurde und hinterließ ihm seinen Bruder Gottfried. Von Erdeborn zog die Familie nach Eisleben, der Vater war Amtsschosser bei den Grafen von Mansfeld geworden. Er heiratete zum drittenmal, Stiefmutter Martha Teuthorn kam ins Haus. Sie lebte nur vier Jahre bei ihnen und beide Kinder, die sie zur Welt brachte, starben auch. Daniel hat viele Menschen sterben sehen, schon als Kind. Er ist oft umgezogen. Er war oft mit Fremden zusammen, denn der Vater musste viel reisen oder hielt sich in der Residenz der Grafen in Hedersleben auf. Sein Beruf war es, den "Schoss", die Grundsteuer für die mittel- und hinterortischen Grafen von Mansfeld, einzutreiben. Viel war das nicht, die Grafen waren arm. Sie bezahlten den Vater schlecht, obwohl er doch Jura studiert hatte. Außerdem war die ganze Zeit Krieg. Eisleben litt furchtbar unter Einquartierungen, sogar Plünderungen kamen vor. Und einmal wurde der Vater unterwegs überfallen und ausgeraubt.
Als sein Vater zum vierten Mal heiratete, diese Frau Dorothea Spiess, die jetzt die Witwenhaube trägt, war Daniel schon nicht mehr im Hause. Die sechs Halbgeschwister hier am Totenbett des gemeinsamen Vaters, er hat sie erst als Erwachsener kennen gelernt. Aber er ist froh, dass er sie hat. Er schätzt Frau Dorothea, die dem Vater dreißig Jahre lang zugetan war, ihn in seiner letzten Krankheit gepflegt hat. Das älteste ihrer Kinder, seine Halbschwester Blandina hat er vor drei Jahren zur Patin seiner eigenen kleinen Blandina gemacht. Und er wird, wenn es nötig werden sollte, für seine drei jüngsten Halbgeschwister Verantwortung übernehmen: die Studenten Johannes und Friedrich und die kleine Maria Sophia. Das kann man von ihm erwarten, falls das Vermögen des Vaters zu ihrer Ausbildung nicht hinreichen sollte. Sein Vater ist ihm da Vorbild. Der hat sogar die Kinder seines Bruders mit aufgezogen.
Lange hat dieser Sohn Daniel nicht recht gewusst, was er eigentlich werden wollte. In der Leichenpredigt auf ihn, die 1694 ebenfalls in Eisleben gehalten werden wird und die notwendig auf eigenen Erzählungen aus seiner Kindheit fußen muss, liest sich das so: "Nachdem er sein 14. Jahr erreichet und sein seel. Vater ihm abgemercket/ daß er kein sonderliches Ingenium zu denen Studiis gehabet/ noch weniger darzu Beliebung getragen/ hat er ihn zum Schreiben und Rechnen anführen und unterrichten lassen." Daniel hat sich also sein Leben lang an einen schweren Konflikt mit dem Vater erinnert. Der Amtsschosser wollte ihn studieren lassen, aber er selbst wollte es nicht. Er fand, er sei nicht begabt – und er hatte auch keine Lust dazu. Der Vater war enttäuscht; denn ihm selbst war seine Ausbildung hart angekommen. Als dreizehnjähriger wurde er von Oldisleben an der Unstrut nach Ohrdruff bei Gotha aufs Gymnasium geschickt. Weit weg vom Elternhaus musste er leben, um die nötige Vorbildung zum Studium zu erhalten. Sein Sohn Daniel hingegen könnte es so bequem haben! Das noch von Luther eingerichtete Eislebener Gymnasium ist zu Fuß vom Elternhaus erreichbar. Und der Sohn lehnt ab! Burgkhard Kuntzsch muss es akzeptieren, wir wissen nicht, nach welchen Kämpfen zwischen Vater und Sohn. Doch wenigstens im Schreiben und Rechnen lässt er Daniel gründlich ausbilden und statt auf die Universität schickt er ihn zu einem Vetter in Coburg, der dort Fürstlich Sächsischer Amtsschosser ist, damit er ihm "als Schreiber aufwarte".
Daniel zuckt die Schultern bei der Erinnerung. Das war’s auch nicht. Für den Vetter ist der unwillige Daniel kein Gewinn. Neidisch schaut der Junge auf die wandernden Handwerksgesellen. Er ist fünfzehn Jahre alt und sucht beharrlich nach einem Kompromiss zwischen seines Vaters Ehrgeiz und seinen eigenen Wünschen. Er findet ihn in der Apothekerlehre bei Herrn Balthasar Renn in der Fürstlich Sächsischen Hof- und Stadtapotheke in Coburg. Der Vater scheint dann zugestimmt zu haben.
Drei Jahre Lehrzeit, ein Jahr als Geselle in Coburg – Daniel Kuntzsch war neunzehn Jahre alt, als er sich endlich aufmachen konnte zur Welterfahrung. Zwei Jahre in Nürnberg, ein halbes Jahr in Linz in Oberösterreich, zwei Jahre in Ödenburg in Ungarn zur Zeit der Pest 1645, dann in Hamburg, in Lübeck, in Glückstadt, in kleineren Orten Holsteins und auch Pommerns, in Berlin, zwei Jahre in Spandau, ein dreiviertel Jahr in Schmalkalden, ein Jahr in Würzburg, ein viertel Jahr in Mühlhausen, danach noch einmal Spandau – dann erst hatte er endlich genug. Seine Wanderlust war gestillt, er hatte nun Berufserfahrung. Er suchte nach einem Ort, wo er sich niederlassen könnte. Er fand ihn 1654 in Köthen: eine solide Stadtapotheke, eine bürgerliche Heirat mit der Kaufmannstochter Elisabeth Sernau. Er war dreiunddreißig Jahre alt. Das ist nun, wenn er auf der Beerdigung seines Vaters daran denkt, auch schon wieder zwölf Jahre her.
Daniel kam nicht nach Eisleben zurück, aber er war doch in der Nähe. Köthen war nicht Mansfeldisch, ein Zweig der Fürsten von Anhalt regierte dort. Die Stadtapotheke, der Daniel als Provisor vorsteht, muss mit der Fürstlichen Schlossapotheke konkurrieren. Aber über seine Frau hat er Zugang zum Seidenhandel. Der bringt mehr ein als der Verkauf von Heilkräutern und Salben.
Seit 1651 ist sein Vater Burgkhard als Amtsschosser der Grafen pensioniert. Er verwaltet aber noch die Gerichte von Ahlsdorf, wird noch Ratsherr in Eisleben und ganz zuletzt Stadtrichter. Er kann, wenn es beiden beliebt, seinen ältesten Sohn gelegentlich sehen, ihn wegen Medikamenten gegen seine Altersbeschwerden um Rat fragen. Vielleicht kommt Daniel manchmal geschäftlich nach Eisleben, vielleicht reist der rüstige alte Mann zu Besuch nach Köthen. Dass eine von Daniels Töchtern Blandina heißt wie die älteste Tochter seines Vaters, ist auch als Referenz an den Alten zu verstehen. Daniel hat nichts gegen seinen Vater. Als Erwachsener versteht er, worauf es dem Vater ankam. Entsprechend ist seine Trauer echt, aber milde.
Den Text für die Leichenpredigt hat der Vater selbst ausgesucht. Aus dem Buch Sirach im Alten Testament hat er Verse gewählt, die die Jugend auf das gute Beispiel der Alten verweisen. Typisch Burgkhard Kuntzsch, mag mancher Zuhörer denken. "Typisch der Alte," denkt Daniel. "Bis zuletzt muss er uns noch erziehen." Aber da greifen die Zuhörer doch zu kurz. "Wer ist jemals zu Schanden worden, der auf ihn gehoffet hat?" heißt der Text. "Denn der Herr ist gnädig und barmherzig und vergibt Sünde und hilft in der Not." Burkhards letzte Botschaft an seine Familie, an seine Stadt ist ein Bekenntnis zum barmherzigen Gott. Es kommt orthodox daher, alttestamentlich, ein wenig herrisch, wie es zu ihm passt. Aber es ist auch demütig. Der alte Mann hat in den Tagen seiner Schwäche und Krankheit Martin Mollers "Manuale de praeparatione ad mortem" von 1593, eine "Sterbekunst" gelesen, ein Buch voll inniger Gebete um Ergebung und Einverständnis. Magister Emmerling entfaltet sein philologisches und theologisches Geschick, um den Sirachtext gut auszulegen. Burgkhards nicht glänzendes, aber doch erfolgreiches Beamtenleben wird auf Hoffen, Beharren und Beten gedeutet.
Schwer kann ich mir vorstellen, dass eine so sorgfältig vorbereitete Rede im Freien an dem Rednerpult der "Kronenkirche" gehalten wurde, bei Aprilwind und gelegentlichen Regenschauern. Trotz der schützenden Säulenflügel im Süden und Osten hätte sich die Stimme des Predigers "bei ansehnlichem Begräbnis" leicht verloren. Vielleicht war Burgkhard Kuntzsch in der Andreaskirche aufgebahrt, und Magister Emmerling konnte von der Kanzel sprechen. Aber wo auch immer: Gleich nach der Begrüßung der Trauergemeinde im Namen "des Heylandes Jesu Christi, des triumphierenden Oster-Königes" wird ein Vaterunser gesprochen. Dann folgt die kunstvolle Entfaltung des alttestamentlichen Textes in dreimal drei Abschnitten, die von einem Exkurs über den Leidenspsalm Christi eingeleitet und dadurch gleichsam vom Neuen Testament her beleuchtet werden. Ob die Choralstrophen, die der Prediger in seinen Text einstreut, auch gesungen werden, ist nicht vermerkt.
Auf die Predigt folgt der Lebenslauf des Verstorbenen, die "Personalia", immer sorgfältig rückbezogen auf dessen Symbolum, den Wahlspruch vom barmherzigen Gott: Burgkhards Herkunft aus gelehrtem Hause, wobei besonders die Großväter, Magister Thomas Kuntzsch, Rektor in Eilenburg und Pfarrer Johann Schütz in Riestedt hervorgehoben werden, Fleiß und Wissensdurst des jungen Burgkhard, die Stationen seiner Tätigkeit als Steuereinnehmer zuerst in Rossleben bei der Familie von Witzleben, dann in Erdeborn bei der Familie von Mengersen und zuletzt in Hedersleben bei den Grafen von Mansfeld werden dargestellt. Auf die berufliche Tätigkeit folgen die Ehrenämter: richterliche Tätigkeit in Ahlsdorf, ein Ratsherrnposten in Eisleben und zuletzt das Stadtrichteramt. Es wird nicht vergessen, dass das alles sich in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges zutrug, dass Pest, Einquartierung, Überfälle und Kontributionen das Leben des Verstorbenen überschatteten. Der Tod von drei Ehefrauen und mehrerer Kinder bringt tiefes Leid. Feinde, die er von Amts wegen hatte, machen ihm das Leben schwer. Aber immer wieder hilft Gott heraus. Und die Zuneigung vieler Menschen, gerade auch der Grafen von Mansfeld, ist dem Toten tröstlich gewesen.
Besonders gern liest die Familienforscherin den Passus über das Verhältnis ihres Vorfahren zu den Grafen und deren Untertanen. Nahe liegt ihr, zu vermuten, dass ein Steuereinnehmer entweder bei seinem Dienstherrn beliebt ist, weil er eifrig eintreibt, oder bei den Bewohnern des Landes, wenn er nämlich nachsichtig Dinge übersieht. Dass es Burgkhard Kuntzsch gelang, der Vertraute seines Herrn, des offenbar oft kränklichen Grafen Christian Friedrich von Mansfeld zu sein, und gleichzeitig die Anerkennung der Besteuerten zu gewinnen, erscheint ihr bemerkenswert. Es liegt wohl an den Besonderheiten des Mansfelder Landes. Der regierende Graf trug die Schuldenlast seiner Vorfahren. Zwar stand er als Mittel- und Hinterortischer Mansfelder nicht direkt unter dem Sequester, aber die wirklich bedeutenden Gelder des Landes und die Gewinne aus dem Bergbau gingen direkt in den Säckel der Gläubiger, des Kurfürsten von Sachsen und des Stifts Magdeburg. Der Schoss, der dem Grafen noch zustand, die Grundsteuer, war wohl als die herkömmlichste aller Steuerarten nicht allzu hoch. Burgkhardts Aufgabe war es, diesen Schoss für den Grafen zu erheben, ohne die Leute zu ruinieren. Das Schicksal des verarmten Grafen und das seiner Untertanen war durch die Sequestration so eng miteinander verquickt, dass das eine nicht auf Kosten des andern verbessert werden konnte. Der Amtschosser Kuntzsch hat "über alle dero HochGräffl. Gn.Gn. Intraden, Einkommen, Bestellungen der Diener und dergleichen in das 23ste Jahr sowohl mit sonderbahrer Vergnügung und Wolgefallen beyderseits gnädiger Herrschafft …. als der gesamten Unterthanen überaus grosser Zuneigung und Angenehmheit verwaltet". Der Graf, der "ihn offtmahls besuchet und lange Zeit in seinem Wohnhauß verharret/ auch in dero Kranckheit und andern Zufällen Ihn gerne sehen und leiden mögen/ Ihme dero Heimligkeit vielfältig offenbaret/ und seine Gedancken hierüber vernommen/ und weiln sie bey ihm eine sonderbahre Treu und Sorgfalt/ so wohl vor Dero HochGräffl: Persohn Zeit wehrender Unpäßlichkeit und sonsten/ als dero HochGräffl: Respect bey denen klammen und kümmerlichen Zeiten/ da sonsten die Treue der Diener ein rarum contingens gewesen/ überall sattsam verspüret/ ist solche Gnade oder vielmehr HochGräffl: Liebe dergestalt erwachsen/ daß Ihro HochGräffl: Gnaden sich nur gefreuet/ diesen Ihren lieben Diener zu sehen/." Wenn dann noch erklärt wird, dass der Amtsschosser verschiedentlich auf sein Gehalt hat warten müssen und dass ihm der Graf mehrfach statt einer Gehaltserhöhung Schuldscheine gab, so wird verständlich, wie sehr alle, Graf und Untertan, in einem Boot saßen. Dass Burgkhard zuletzt diesen Dienst quittieren wollte, leuchtet ebenfalls ein. Aber auch das gelang ihm anscheinend, ohne seinen Herrn zu kränken. Nun ist Graf Christian Friedrich schon seit zwei Jahren tot.
Ob Daniel über dies alles nachdenkt, während er der umständlichen barocken Satzmelodie des Predigers lauscht? Sicher fühlt er sich darin bestätigt, nicht Beamter, sondern selbständiger Kaufmann geworden zu sein. Findet er trotzdem, dass das Leben seines Vaters gelungen ist? Kann ein Mensch mehr erreichen, als unter den Bedingungen, in die er hineingestellt ist, sich bewähren? Und hat sein Vater nicht recht, wenn er sich dabei auf seinen Glauben an den Sünden vergebenden Gott beruft?
Kleine persönliche Erlebnisse fügt der Prediger ein: Er rühmt, dass der Vater noch "in seinem hohen Alter mit keiner wissentlichen Hauptbeschwerung beladen gewesen/ also daß Er auch in seinem höchsten Alter bey Kräfften erhalten worden/ und alle Schrifften biß an sein Ende ohne Zuthun eines Prillens/ dessen Er sich zwar vorhero eine lange Zeit gebrauchen müssen/ merckwürdig wiederumb lesen können/ daraus Er Gottes sonderbahre Gnade danckbarlich erkennet/". Er schildert die letzten Monate, Wochen, den letzten Tag, als der Vater einsieht, dass er sterben muss und in diesem Gefühl seine Ehe löst. "Seine liebe Haußfrau/ die Er ohne das niemahln in seiner Krankcheit von sich gelassen/ hat Er zu Bezeigung seiner Danckbarkeit vor ihre an ihm erwiesene Liebe und ehliche Treu gantz beweglich angegriffen/ zu sich gezogen und geküsset/ seinen Trau-Ring von Fingern gezogen/ ihr denselben hinwieder eingereichet/ und dadurch die Aufflösung des biß dahero treulich erhaltenen Ehebandes mit Christl: Wunsch fernerer Glückseligkeit/ bezeuget/". Eine solche symbolische Handlung erstaunt uns heutige wahrscheinlich weit mehr als die barocken Zuhörer. Die Söhne und Töchter mögen zwar den Vater deswegen bewundern, aber ungewöhnlich scheint diese Eheauflösung im Angesicht des Todes nicht zu sein. Vielleicht wird sie in Martin Mollers Sterbekunst empfohlen.
Nach dem Ende der Predigt hat Daniel mit seinen Geschwistern gewartet, bis der Sarg aufgehoben wurde und der Trauerzug sich geordnet hat. Die Söhne zuerst, sind sie dann alle hinter dem Sarg her von der Andreaskirche zum Stadtgottesacker gegangen – oder, falls die Predigt schon dort gehalten wurde, von der "Kronenkirche" zur Gruft. Es ist ein langer Zug, nicht ohne Gedränge geht es ab, denn den alten Stadtrichter, der vorher so lange der Steuereinnehmer des Grafenhauses war, hat fast jeder in Eisleben gekannt. Die Frauen folgen als letzte, an ihrer Spitze die Witwe und die drei Töchter des Verstorbenen. Auf dem Weg werden wahrscheinlich von der "ganzen Schule" Choräle gesungen. Sicher läuten auch Glocken. Wie lange und welche, das hängt davon ab, wie viel die Erben bezahlen wollen.
Nachdem der Sarg in die Erde gesenkt worden ist, folgt die "Abdanckung" an alle, die Burgkhard Kuntzsch an diesem Begräbnistage durch ihre Anwesenheit geehrt haben. Ein jüngerer Geistlicher, der Pfarrer Johann Friedrich Flax aus Friedeburg, spricht im Namen der Familie. "Daß aber Ihre HochGräff:Gnadn: sich gnädig gefallen lassen/ durch dero Hochansehnlichen Herrn Abgeordneten diesen Trauer-Conduct zu beehren/ daß auch Ihre Herrlichkeiten und Tugenden von ihren Angelegenheiten sich entmüssigen und in langer Ordnung erscheinen wollen/ das erkennen sämptliche Leidtragende mit respective unterthänigen/ DienstEhrengebühr- und freundlichen Danck." – "unterthänig" gegenüber dem Grafenhause, "DienstEhrengebührlich" gegenüber dem Stadtvogt, den Ratsherren und Richtern und "freundlich" gegenüber Nachbarn und Bekannten. Pfarrer Flax nutzt die Gelegenheit, mit seinem Redetalent zu glänzen, und hält noch einmal eine kleine Predigt. Zumindest im Anfang ist sie in einem Klageton gehalten. Vielleicht ist ihr Sinn, dass alle Angehörigen noch einmal herzlich weinen dürfen.
Möglich ist, dass an die Armen, die dem Sarg gefolgt sind, nach der Abdanckung Brot und Tuchspenden verteilt werden. Am Leichenschmaus hingegen können nur geladene Gäste teilnehmen. Das werden nicht wenige sein: Die beiden Geistlichen natürlich, der Abgesandte des gräflichen Hauses, die Beamten des Stadtgerichts und die "Herrlichkeiten und Tugenden", nämlich der Stadtvogt Johann Mörder und die Ratsherren als ehemalige Kollegen. Johann Mörder ist ein Jugendfreund des Verstorbenen. Als Burgkhard als Mittelamtsschösser nach Eisleben kam, war Johann der Unterstadtschreiber. Die beiden standen sich gegenseitig Pate bei den Geburten ihrer Kinder. So ist der trauernde Sohn Gottfried Kuntzsch des Stadtvogts Patensohn. Außer der Witwe Dorothea Kuntzsch und den Kindern werden zahlreiche Verwandte am Essen teilnehmen.
Burgkhard Kuntzsch ist für das Verständnis seiner Zeitgenossen sehr alt geworden: sechsundsiebzig Jahre und sechs Monate. Dass sein Ableben einen Verlust bedeute, musste schon erklärt werden. "Ich bekümmere mich von Herzen (sagt der andächtige Vater Ambrosius) so offt ich höre/ daß es über einen frommen Alten gehet und derselbe mit seinem Tode die Zahl der Lebenden mindert; Ob er gleich durch die Jahre ziemlich heruntergekommen und an Kräfften abgenommen hat. Denn ich weiß/ daß dem jungen Volcke dadurch eine Mauer niedergerissen worden." Beide Prediger weisen darauf hin, dass den jungen Leuten die Fürbitte des Alten bei Gott fehlen werde. Offenbar ist Burgkhard sonst in mancher Hinsicht schon eine Last für seine Familie gewesen.
Die dreijährige Enkelin Burgkhards, meine Vorfahrin Blandina Kuntzsch, wird mit ihrer Mutter in Köthen geblieben sein. Die Reise zum Begräbnis des Großvaters in Eisleben hat man ihr wohl erspart. Erst vierundzwanzig Jahre später wird auch sie nach Eisleben kommen: sie heiratet den Handelsmann Martin Schmied, der gleichzeitig Ratsherr ist. Ihretwegen kommt dann auch ihr Vater Daniel Kuntzsch am Ende seines Lebens nach Eisleben zurück. Er ist verwitwet und seine andern Kinder sind ihm gestorben. Er braucht Pflege und die Nähe seiner Tochter Blandina. So kommt es, dass auch ihm ein Mansfeldischer General-Superintendent die Leichenpredigt hält: Magister Ehrenfried Dürr, mehreren meiner Vorfahren wohlvertraut. Und es führt dazu, dass Vater und Sohn beide auf dem Stadtgottesacker in Eisleben ihre letzte Ruhestätte haben. Das wird 1694 sein. Daniel weiß es nicht, als er sich wenige Tage nach dem Begräbnis des Vaters wieder aufmacht durch den jetzt erstarkenden Frühling zu seiner Familie und seinem Geschäft in Köthen.