Onkel Rudi Hammer

Mein Vater Eberhard von Mering nannte ihn „Onkel Rudi“. Aber Rudolf Hammer war nicht mit meinem Vater verwandt wie die Onkel aus der Mering- oder der Eberhardt-Sippe. Hammer war ein so genannter „Nenn-Onkel“. Kinder und Jugendliche damals mussten Menschen der Elterngeneration mit dem Titel „Onkel“ oder „Tante“ anreden, wenn sie diese Erwachsenen duzen durften. Das war selbstverständlich und keine persönliche Entscheidung. Einfach nur den Vornamen zu gebrauchen, wäre respektlos gewesen.

Rudolf Hammer war am 31.8.1882 in Hohenstein/Ostpreußen geboren und hatte seine Jugend in Königsberg verbracht. Dort hatte er auch an der Kunstakademie studiert. Danach hatte er in München und Berlin, in Madrid und Paris malen und lernen können, ganz anders als mein Großvater Carl, der, acht Jahre älter, nie aus dem Rheinland hinausgekommen war.

Eberhard war noch nicht drei Jahre alt, als er Onkel Rudi zum ersten Mal sah. Das war 1912. Rudolf Hammer kam mit seiner Frau Maria aus Paris zurück. Er schreibt, er sei mit Carl von Mering durch Werker, den Organisten in Königstein a.d. Elbe, bekannt geworden. Woher Willy Werker meinen Großvater kannte, ist mir nicht klar. Aber es hat sich ein humorvoller Brief Werkers zur Hochzeit von Carl 1907 erhalten. Und Carl hat das Foto eines Grabsteins von 1910 für die sehr betagte Valide Werker unter seinen Entwürfen aufbewahrt.

Über Carl schreibt Rudolf in einer autobiographischen Skizze: „Der bewegliche Rheinländer gab sich naiv dem Leben. Das tat mir wohl.“ 1912 ist sicher eine glückliche Zeit für den Modelleur Carl von Mering gewesen. Er hatte gerade das eigene Haus mit Atelier in der Bismarckstraße 3 in Rodenkirchen bezogen. Seine Frau und seine Mutter waren relativ gesund, die Kinder, Klara und Eberhard, vier und drei Jahre alt.

Der weit gereiste Besucher Rudi Hammer war sicher eine Bereicherung für die ganze Familie.

1928 kam Rudolf Hammer wieder nach Rodenkirchen. Mein Vater war jetzt in der Oberprima des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums in Köln. Nach seinen Erinnerungen wohnte Hammer ein ganzes Jahr bei Familie von Mering. In seinem Lebenslauf von 1934, den mein Vater für das 1. Theologische Examen anfertigte, schreibt Eberhard: „…Erst in Oberprima entschied ich mich endgültig für den Pfarrerberuf, und zwar kam der Entschluss – gefördert durch den Wunsch meiner Mutter und Großmutter, die selbst Pfarrerstochter ist – durch meinen Geigenlehrer, den Kunstmaler Rudi Hammer zustande, der als Freund meines Vaters ein Jahr (1928/29) bei uns wohnte. Die Seelentiefe und der bestimmte Charakter dieses Mannes riefen in mir unwillkürlich die Frage nach eigner Vervollkommnung und damit die Frage nach Gott wach. Oft haben wir uns auf gemeinsamen Wanderungen über religiöse Fragen unterhalten.“

1928/29 war eine äußerst üble Zeit für bildende Künstler. Die Weltwirtschaftskrise behinderte alle Bauten und Anschaffungen der öffentlichen und der privaten Hand. Bei den Merings war Schmalhans Küchenmeister. Vielleicht wohnte Onkel Rudi in der Bismarckstraße 3 gegen Zahlung von Kost und Logis. Eine Schilderung der Zeit des Zusammenwohnens gibt es in einem Brief Eberhards an meine Mutter Ruth, seine Braut, vom 18.12.1931: „Gestern bekam ich von Onkel Rudi Hammer aus Hamburg eine Karte. Er hat so gar kein Verdienst und ist sehr unglücklich. Ich habe ihm gleich mit einem 6 Seiten langen Brief geantwortet. Zu Weihnachten will ich ihm und meinem kleinen Patenjungen auch eine kleine Freude machen. Ich weiß nur noch nicht wie und womit! Er tut mir schrecklich leid; er möchte so gern nach Königsberg zu seinen beiden Kindern aus erster Ehe – seine Tochter hat jetzt Abitur gemacht u. will Diakonissin werden – aber er hat nicht das nötige Reisegeld dazu. Die armen deutschen Künstler haben doch einen schweren Stand. Und gerade zu Weihnachten möchte man gern jedem helfen, dass er nicht traurig zu sein braucht; Onkel Rudi hat es wirklich um mich verdient; wenn ich auch kein großer Geigenkünstler geworden bin, so hat er mir doch menschlich sehr viel gegeben. Er fragte doch in der Karte, ob wir ihn auch wirklich noch lieb hätten. Es wäre immer so schön gewesen, wenn er abends kalt gefroren zu uns nach Hause gekommen wäre und dann hätten wir alle zusammen gesessen, jeder erzählte von seinen Tageserlebnissen. Ja, das war auch eine schöne Zeit; und wir hatten unseren Onkel Rudi trotz seiner merkwürdigen Sitten und Gebräuche – nur mit einem Strumpf über die Straße gehen u.a. – sehr lieb. Er scheint sich zu Hause gar nicht wohl zu fühlen; wahrscheinlich kommt er mit seiner gestrengen Schwiegermutter nicht zurecht. Sie legt so großen Wert auf Form und hatte von vornherein nicht viel für ihren Schwiegersohn übrig. Sie ist sonst eine feine und kluge Frau. – Nun hab ich Dir wieder was erzählt, was Dir sicher gleichgültig ist. Aber Du weißt: Wes das Herz voll ist…! Seine Karte hat mich so erregt. Leb innig wohl, liebe Ruth!“

Wie nah Onkel Rudi meinem Vater stand, kann man an diesem Brief sehr gut sehen. Auch scheint daraus hervorzugehen, dass Eberhard der Pate eines Kindes von Rudi und seiner zweiten Frau Anna Maria war, entweder von dem Sohn Ernst-Ludwig, geboren am 27.4.1928 in Ballenstedt oder dem Sohn Ulrich, geboren am 31.3.1930 in Hamburg-Rahlstedt. Es gibt Fotos von Rudolf Hammer mit der Familie von Mering, es gibt eine Zeichnung vom Gesicht meines Vaters, ein Brustbild meiner Großmutter, auch gezeichnet, und das schöne Ölbild mit dem sorgenvollen Kopf von Carl vor einem seiner Reliefs.

Immer wieder in den letzten 20 Jahren habe ich nach dem Maler Rudolf Hammer gesucht. Drei seiner Bilder haben meine Kindheit begleitet: Das Bild meiner Großmutter Clara, eine farbige Graphik „St. Katharinen in Lübeck, 1930“ und vor allem ein Ölgemälde, genannt „Das Wäldchen“ von 1928. Es stellt den täglichen Spazierweg der Familie von Mering in den Rheinauen dar. Den Bäumen sieht man das häufige Hochwasser an, für mich, die ich die prachtvoll entwickelten Kronen der norddeutschen Bäume kannte, sahen diese Bäume arm aus. Aber für meine Mutter bedeutete es die glücklichen Stunden allein mit Eberhard in einer sieben endlose Jahre währenden Verlobungszeit. Sie meinte, Rudi Hammer habe mit dem Geigenunterricht für meinen Vater und den Gemälden das Logis bei meinen Großeltern bezahlt.

Erst jetzt, seit Dr. Alexander Kierdorf an dem Wikipedia-Artikel für meinen Großvater Carl arbeitet, habe ich wieder im Internet nach Rudolf Hammer gesucht. Und im Web erschien das Jahrbuch von 2011 des Rahlstedter Kulturvereins1. Darin befindet sich ein gut recherchierter Artikel von Lothar Stolte über Rudolf Hammer. Und Herr Stolte hat mir den Zugang zu Hammers Nachkommen eröffnet: Eine Enkelin, Tochter des Sohns aus erster Ehe, lebt in Hamburg-Volksdorf, ein Sohn Ulrich aus der zweiten Ehe, selbst Architekt und Graphiker, in Rostock. Der private Blick des jungen Eberhard weitet sich zur Künstler-Biographie.

Der Biograph Lothar Stolte schildert mit großem Einfühlungsvermögen die künstlerische Entwicklung von Rudolf Hammer. Wie schwierig es für seine Mitmenschen sein konnte, diese Entwicklung zu begleiten, deutet er nur an. Auch mein Vater gibt nur einen vagen Hinweis auf die „merkwürdigen Sitten und Gebräuche“. Aber er hält an seiner Zuneigung fest.

Rudolf Hammer ist nicht Mitglied der NSDAP geworden wie mein Großvater Carl, der in der Verzweiflung des Jahres 1931 der Partei beitritt. Mein Vater Eberhard schreibt damals an seine Freundin Ruth: „ … Wenn doch nur bald diese schreckliche Zeit mit Notverordnungen und Sparkassenschließungen vorbei wäre. Überall, wo Vater hinkommt, um einen in Aussicht gestellten Auftrag zu übernehmen, heißt es, dass kein Geld da ist. Ich erwarte ein Stipendium, was auch wegen der schlechten Zeit vorläufig noch nicht ausgezahlt werden kann. Es ist wirklich schrecklich, wenn kein Geld im Haus ist! Aber nirgends ist eine Aussicht auf Besserung.“

Rudolf Hammer hat zunächst noch Geld zum Lebensunterhalt durch das Lehrergehalt seiner zweiten Frau. Und obwohl er der Reichskunstkammer nicht beitritt, kann er 1935 und 1939 Bilder in Königsberg öffentlich zeigen. Und in Köln gelingt ihm 1936 sogar eine große Werkschau über die Jahrzehnte seines Schaffens.

Bei dieser Gelegenheit hat meine Mutter ihn kennen gelernt. Davon existieren zwei winzige unscharfe Fotografien, aufgenommen mit der kleinen Box meiner Mutter. Danach schreibt Eberhard an sie: „Mein Herzlieb! Da habe ich wieder das erste Kärtchen von Dir in der Hand … Dass wir uns in unserm Glauben verstehen, ist wohl das Größte, was mir von Gott geschenkt werden könnte; aber wichtig ist mir auch, dass wir uns in der Beurteilung von Menschen einig sind. … Dass Du Onkel Rudi nicht verurteilt hast ... dass Du über seine Fehler hinweg sehen und seine reine, wahre Seele, seine Liebe und Sehnsucht gefunden hast. Es mag vielleicht kleinlich oder pedantisch sein – ich habe von Deiner Stellung zu ihm viel von unserem eigenen Verstehen abhängig gemacht, und Du hast mich wieder nicht enttäuscht. … bleib froh und zuversichtlich. Gott ist mit uns. Ich halte Dich ganz fest und bleibe immer Dein ganz Dir gehörender Eberhard.“

Was Eberhard hier als „Fehler“ des Freundes bezeichnet, weiß ich nicht. Es könnte die Ehescheidung sein. Die jungen Verlobten, die selbst enthaltsam lebten, sahen diesen Schritt Hammers sicher als Sünde an. Aber mein Vater hat diesen Menschen geliebt, das steht fest.

Eins der kleinen Fotos zeigt Rudi und Eberhard nebeneinander am Rheinufer, Hand auf Hand. Es sieht aus wie ein Treueschwur. Im Brief zur Hochzeit meiner Eltern verspricht er den jungen Leuten einen Besuch in Heusweiler, obwohl er nur mit dem Fahrrad wird kommen können, weil er kein Geld zur Fahrkarte hat. Doch aus dem Kondolenzbrief Hammers an meine Mutter im September 1944 kann ich entnehmen, dass Rudi auch meinen Vater später enttäuscht hat – oder dass Rudi sich von meinem Vater enttäuscht fühlte. Jedenfalls gab es nach der Eheschließung meiner Eltern ein „jahrelanges Schweigen“.

Eberhard von Mering hat Rudi Hammer dann doch noch geschrieben, vier Wochen vor seinem Tod. Eine Feldpost-Nummer konnte er nicht angeben, er befand sich auf dem Weg an die Front. Was mag auf der Karte aus Königsberg gestanden haben? Auf der Karte an meine Mutter aus Königsberg vom 27. Juli schreibt Eberhard, er werde acht oder zehn Tage in Königsberg bleiben. Stand das auch auf der Karte an Rudi Hammer?

Merkwürdig ist, dass Rudolf Hammer laut seinem Biographen Lothar Stolte „im Frühherbst 1944 mit einem Husarenritt noch einmal die Reise nach Ostpreußen“ wagte. Er soll versucht haben, einige seiner Bilder aus Königsberg zu retten. Höchstwahrscheinlich war auch seine erste Familie noch dort, auf jeden Fall die Tochter Margarethe, die als Diakonisse im Krankenhaus Dienst tat. Hat er etwa gehofft, auch meinen Vater dort zu treffen? Das erwies sich als unmöglich. Noch vor meinem sechsten Geburtstag, dem 29. Juli 1944, musste Eberhard Königsberg in Richtung Osten verlassen. Rudi und Eberhard haben sich nicht wieder gesehen.

Wenige Wochen später ist Rudi sich nicht einmal sicher, ob er auf die Karte geantwortet hätte. Mein Vater Eberhard war am 21. August 1944 gefallen, Großvater Carl war schon am 26. Januar 1944 gestorben und Rudolf Hammer starb am 30. August 1957 in der DDR. Eine Verbindung, die 1912 begonnen hatte, verlor sich.

Aber sie gehört doch in unsere Familiengeschichte!

Anmerkung:

1 Rahlstedter Jahrbuch für Geschichte & Kultur 2011, www. rahlstedter-kulturverein.de, S. 28 – 40: Lothar Stolte: Rudolf Hammer – eine Spurensuche.

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