Ein Gebetzettel für die Familie Mering

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Zuerst veröffentlicht in: WIPPERFÜRTHER VIERTELJAHRSBLÄTTER Nr. 90, (Oktober - Dezember 2003) hrsg. im Auftrag des Heimat- und Geschichtsvereins Wipperfürth e.V. von Dr. Frank Berger, Erich Kahl und Klaus Rieger

Gebetzettel gibt es in allen Religionen, die über eine Schriftkultur verfügen. Sie haben verschiedene Formen, werden auch verschieden verwendet, aber sicher liegt ein gemeinsames Bedürfnis zugrunde: dem flüchtigen mündlichen Gebet zu Gott Dauer zu verleihen und zugleich andere Beter aufzufordern, das eigene Anliegen zu unterstützen.

Fürbittengebete sind eine alte Tradition der Christenheit. Schon Paulus hat in seinen Briefen diese Praxis der Gemeinden voraussetzen können. Die Kirche hat diese Übung ausgebaut, intensiviert, auch formalisiert. Es kam zu einer Verdinglichung der Fürbitte in Gestalt von Ritualen. Einzelne und Gruppen versuchten sich an diesem Ritual Anteil zu verschaffen und diesen Anteil durch Spenden oder Stiftungen zu sichern. Die Kirche auf dem Kreuzberg bei Wipperfürth ist ein Denkmal dieser Fürbittenpraxis.

Im Historischen Archiv Köln in der Akte Mering findet sich ein alter Gebetzettel, rührend für den Familienforscher, der sich plötzlich unter den „Descenten“ der Familie in längst verhallte Gebete eingeschlossen fühlt, interessant für den Regionalforscher, der die Kirche und den Altar kennt, für den diese Stiftungsbedingungen einst gegolten haben, erhellend und nachdenkenswert für den Gläubigen, der Fürbitte für sich und andere zu halten gewohnt ist und vielleicht bei Gelegenheit selbst einen Gebetzettel verfasst.


 

Gebettzettel

Für den Meringgichschen Altar im Hohen Thumb
und die im Jair des Heils 1723 erbaueten Kirche
zu Krützberg

Für Weiland die leven Voreltern und edel Verwandtschaften der Familge, wie sie heißen.

CHRISTIAN MERING, Prior zu Kleinborlo starb 1616 am 27. Junien.
Die Eheleute HEINRICHEN von MERING und CHRISTINE CATHRIN von MONHEIM.
Für HEINRICHEN von MERING der Andere und GRETCHEN von HOCHGEBOREN Eheleute.
CHRISTOFFEL von MONHEIM und URSEL von MÜLHEIM Eheleute.
PETER von MONHEIM und ANNA v. NEHL Eheleute.
MARGAREDCHEN von GRUNDTINGER genannt MERING und dessen Ehemann Doctorn DERICH von MERING Stimmeister und Ratsherr zu Cöllen.
Für JOHANNES MERING Pater der Jesuiten.
Für JOHANNEM von KREPS Ratsherr
Für WILHELM HORN genannt GOLDSCHMITT, Churfürstlicher Raith und für syne Hochwürden Gnaden den Thumbherr und Proibsten HEINRICHEN von MERING Christlich gestorben im Jahr 1700.

Welche mit allen Mehringischen Descenten der gütigste GOTT zu syner Gloriselichkeit begnadigen und ewiglich mit allen anderen und künfftigen lieven Anverwandten in syner Glori erfreuen wolle. Warumb alle Christlivende bitted

HEINRICH von MERING

Thumbkapitular / Senioren der Familge


Der „Meringichsche Altar im Hohen Thumb“ ist der Altar für das Gerokreuz im Kölner Dom. Auf eigene Kosten und nach eigenem Entwurf hatte Dr. Heinrich Mering, der erste Domherr der Familie, 1683 diesen Altar für den schon aus dem frühesten Kölner Dom stammenden romanischen Kruzifixus errichten lassen. Links vom Altar hängt das Epitaph des Stifters hoch oben an der Wand. Die Büste des Kapitulars lächelt dem Gekreuzigten vertrauensvoll zu. In der unterirdischen Gruft vor diesem Altar wurde Heinrich Mering am 4. oder 5. April 1700 bestattet. An diesem Altar wurden auch die Gedenk- und Seelenmessen für ihn gelesen. Dafür sorgte sein Testamentsvollstrecker, Nachfolger im Domkapitel und Neffe, der Domherr gleichen Namens, der sich Heinrich von Mering zu nennen pflegte.

Dieser zweite Domherr der Familie war siebenundvierzig Jahre jünger als der erste. Er fühlte sich in der Tradition des ersten, aber natürlich hatten sich die Zeiten gewandelt. Nach den Bildnissen zu urteilen war er auch ein anderer Charakter. Er war vielleicht weniger originell als sein Onkel, auch weniger kunstsinnig, dafür prinzipieller und sehr treu. Er bemühte sich, die Anregungen seines Vorgängers aufzugreifen und auszubauen. Dazu gehörte die Pflege des Kreuzaltars im Dom und die Mission auf dem Kreuzberg bei Wipperfürth. Er ist der Autor dieses „Gebettzettels“.

Sicher hat Heinrich von Mering den Gebetzettel bald nach der Fertigstellung der Kirche auf dem „Krützberg“ im Jahr 1723 verfasst. Damals war er sechsundfünfzig Jahre alt und auf der Höhe seiner Karriere. Er war Theologe und Jurist, Mitglied des Domkapitels und damit der erzbischöflichen Regierung, er war Hofrat und Hofgerichtspräsident. Er lebte meistens in Köln, wohin seine Ämter und Aufgaben ihn banden. Aus dem Testament seines jüngeren Bruders Tilman Theodor wissen wir, dass Heinrich von Mering in der Tranckgasse direkt neben dem Dom eine Wohnung hatte.

Nach dem Zeugnis seines Urgroßneffen Friedrich Everhard von Mering hielt der Domherr sich aber manchmal „zu Ferien“ im Bergischen Land auf. Wipperfürth war die Heimat seiner Mutter, der Anna Catharina Linden, einer Bürgermeisterstochter, die 1682 in Wipperfürth auch verstorben war. Der Domherr hatte von ihr Güter geerbt, auf denen er sich aufhalten konnte, ganz bestimmt Hohenbuchen und Scherckenbick, aber möglicherweise auch Stöpgeshof und Felderhof, wie der Regionalhistoriker Friedrich Everhard von Mering berichtet. Der Domherr kannte also die Gegend aus eigener Anschauung, nicht nur dienstlich aus den Pfarrberichten, die regelmäßig an das Generalvikariat nach Köln gingen. In seinem Testament 1733 bezeichnet er das Bergische Land als seine Heimat. In dieser Heimat möchte er für seine Familie beten lassen. Darum bittet er alle, die Christus lieben.

Wen aber von den „lieben Voreltern und edeln Verwandtschaften“ empfiehlt er der Fürbitte? Nicht etwa seine Mutter Anna Catharina Linden, das fiel mir gleich auf, und auch nicht seine Großeltern mütterlicherseits, Adolph Linden und dessen Frau, wohl aber seinen Vater, den „Doctorn DERICH von MERING Stimmeister und Ratsherr zu Cöllen“. Derich ist mundartlich für Theodor, es handelt sich um Dr. Theodor Mering, Medizinprofessor und zeitweilig Dekan der Universität Köln. Interessanterweise erwähnt der geistliche Sohn nicht die wissenschaftliche Laufbahn des Vaters, sondern die politische: Ratsherr und Stimmmeister, d.h. derjenige Ratsherr, dessen Stimme bei Stimmengleichheit entschied, war der Vater zeitweilig auch gewesen. Und noch bemerkenswerter: er führt ihn ein als Ehemann seiner zweiten Frau, „MARGAREDCHEN von GRUNDTINGER genannt MERING“, Heinrichs Stiefmutter. Für dieses Paar soll sowohl im Dom vor dem Altar mit dem Gerokreuz als auch auf dem Kreuzberg gebetet werden. Was mag ihn bewogen haben, seine Mutter, die er doch gekannt haben muss, da sie erst starb, als er schon 15 Jahre alt war, und deren Eltern wegzulassen? Vielleicht, weil sie hier schon immer zu Hause waren, weil ihr Wappen in der Nikolauskirche von Wipperfürth an sie erinnerte, weil Seelenmessen für sie längst gehalten wurden.

Seine Großeltern väterlicherseits hingegen nennt der Domherr mit Namen: „HEINRICHEN von MERING der Andere und GRETCHEN von HOCHGEBOREN Eheleute“. Und er geht noch weiter zurück: die Urgroßeltern nimmt er in seine Liste auf: „Die Eheleute HEINRICHEN von MERING und CHRISTINE CATHRIN von MONHEIM“ und sogar ein Ururgroßelternpaar: „PETER von MONHEIM und ANNA v. NEHL Eheleute“. Nach welchen Kriterien mag er vorgehen? Wo hat er die übrigen Namen gefunden? Welche Verpflichtung hat er gegenüber den „edel Verwandtschaften“, die nicht direkte Vorfahren von ihm sind wie z. B. der Ratsherr JOHANN von KREPS und das Ehepaar MONHEIM/MÜLHEIM? Ich vermute, dass für diese Menschen Seelenmessen vor dem Kreuzaltar in Köln gestiftet waren und dass der zweite Domherr Mering Gründe hatte, diese Stiftungen auch auf den Kreuzberg bei Wipperfürth zu verlegen.

Einzig die Nennung von „syne Hochwürden Gnaden den Thumbherr und Proibsten HEINRICHEN von MERING Christlich gestorben im Jahr 1700“ leuchtet sofort ein. Dieser Heinrich von Mering ist ja der Onkel des Gebetzettelautors, sein Pate 1667 in Köln, wahrscheinlich der Vermittler der Ehe seiner Eltern. Viel spricht nämlich dafür, dass der ältere Domherr es war, der für seinen jüngeren Bruder, den Medizinprofessor Dr. Theodor Mering, 1664 um die Hand der Tochter des Bürgermeisters von Wipperfürth warb. Sicher kannte er Adolph Linden, den Kanonikus von St. Aposteln in Köln, den Bruder oder Vetter der Braut. Er ist neben dem Mediziner Theodor der einzige von all den Menschen auf dem Gebetzettel, der wenigstens einigen der Betenden in der Kreuzkirche dem Namen nach bekannt gewesen sein dürfte.

Aber darum geht es wohl gar nicht. Die Gläubigen aus den Dörfern um den Kreuzberg haben seit 1723 den Vorteil einer eigenen Kirche, einer ständigen geistlichen Betreuung, sie quittieren ihn mit Gebeten für das Seelenheil der Stifterfamilie. Für wen der Stifter beten lassen will, liegt ganz bei ihm. Er siedelt mit dem Gebetzettel die Merings und ihre Verwandtschaft aus Köln in der mütterlichen Bergischen Heimat an. Und er verschafft zugleich der neu gegründeten Missionskirche einen Hintergrund, den sie sonst nicht hätte – er stellt sie in eine Tradition von Kölnern, die im katholischen Glauben verstorben sind. Heinrich behauptet nicht, dass sie sich schon in der „Gloriselichkeit“ Gottes befinden, er lässt darum beten. Er weist auf diese Möglichkeit zur Erlangung der ewigen Seligkeit hin in einer Gegend, die offenbar stark von der neuen, der lutherischen Konfession und ihrer Skepsis gegenüber den Seelenmessen beeindruckt ist. Die Herrenhäuser Engstfeld und Schweinendahl, in denen der Onkel Heinrich Mering noch von den Franziskanern hatte die Messe lesen lassen, sind inzwischen an evangelische Besitzer verkauft worden. Die Mission des Onkels „hat stillgestanden“, wie der Neffe feststellt. Er muss sie neu in Gang setzen.

Aber nicht nur das Vermächtnis des Patenonkels und Vorgängers im Domherrnamt muss Heinrich von Mering II mit neuem Leben erfüllen. Auch die weltliche Verwandtschaft bedarf seines Impulses. Heinrich nennt sich selbst Senior der Familie. Aber wo ist diese Familie? Von den Merings gibt es außer ihm nur noch einen einzigen: Johann Friederich von Mering. Er ist kaiserlicher Hauptmann im O’Gilvy’schen Regiment zu Fuß, hat aus seiner Ehe mit Eleonore von Radenhauber eine einzige Tochter und ist nun gerade verwitwet. Wenn er sich nicht wieder verheiratet, wird der Name von Mering in der nächsten Generation verschwinden. Heinrich von Mering ist wie sein Onkel damals auf Brautwerbung für seinen Bruder.

Aber er findet die Braut nicht in Wipperfürth, obwohl er das vielleicht gehofft hat. Er findet sie in Andernach. 1724 fädelt er das ein, gemeinsam mit seinem Freund und Kollegen Matthias Rübsam, Ritterschöffe, Ratsherr und zeitweilig Bürgermeister von Andernach. 1725 heiratet der kaiserliche Hauptmann Johann Friederich von Mering die Bürgermeisterstochter Maria Gertrude Rübsam und übernimmt das Amt des Rheinzöllners von Andernach. Heinrich besorgt die Ernennung, bezahlt die Kaution, wie er den Bau von Kirche und Pfarrhaus auf dem Kreuzberg besorgt und bezahlt. Heinrich vermacht dem Bruder laufende zusätzliche Einkünfte, so wie er für Pfarrer und Küster auf dem Kreuzberg Gehälter schafft. Da ist alles und jedes bedacht. Solange er lebt, kümmert er sich selbst darum, für die Zeit nach seinem Tod wird es akribisch in seinem Testament geregelt.

Der merkwürdige Gebetzettel ist ein Programm. Heinrich von Mering fühlt sich als „Senior der Familge“. Dazu gehören die „leven Voreltern“, dazu gehören die erhofften „Descenten“, die „künfftigen lieven Anverwandten“. Er hat die Voreltern und ihre Verwandten nicht gekannt, er kennt nicht die Nachfahren. Er bittet alle „Christlivenden“, für sie zu beten.

Großen Wert legt Heinrich von Mering darauf, dass die Stiftung zum Kreuzberg eine weltliche, eine Familienstiftung ist, dass der jeweilige Senior der Familie auch der Patron ist, der in allen Belangen der Mission mit zu entscheiden hat. Die Stiftung der Kirche am Kreuzberg gehört nicht in die Amtspflichten des Kölner Domherrn, sie ist vielmehr Teil seines Privatlebens. Sein persönliches Wappen lässt er in der Kirche anbringen, damit man seiner als Person gedenke. Wenn er heute die Tafel neben der Kirchentür mit seinem Namen läse, wäre er sicher zufrieden.

WIPPERFÜRTHER VIERTELJAHRESBLÄTTER Nr. 90 (Oktober – Dezember 2003), hrsg. im Auftrag des Heimat- und Geschichtsvereins Wipperfürth e.V. von Dr. Frank Berger, Erich Kahl und Klaus Rieger