Die arme Catharina Henry

Zuerst veröffentlicht in: GELDRISCHER HEIMATKALENDER 2002, hrsg. vom Historischen Verein für Geldern und Umgegend, S. 292ff

Die arme Catharina

Seit wann ich sie so nenne, weiß ich nicht. Ich habe es mir einfach angewöhnt, sie bei mir selbst "die arme Catharina" zu nennen. Dabei kenne ich sie gar nicht. Sie ist eine meiner acht Ur-Urgroßmütter.Vielleicht ist Julie Behn, geb. Zelter, eine andere Ur-Urgroßmutter, viel mehr zu bedauern. Sie lebte kürzer als Catharina, ihre Verwandten waren zum Teil Trinker, ihr Mann starb in einer  Nervenheil­anstalt, nachdem sie gerade noch sein letztes Kind zur Welt gebracht hatte. Oder Charlotta Justina Liebert, geb. Zytowski: Ihr Mann verließ sie nach 18-jähriger Ehe, sie blieb mit fünf noch unerwachsenen Kinder und der verschuldeten Bäckerei zurück. Klara Augu­ste Liebscher, geb. Nathusius, verwitwete mit 51 Jah­ren und mußte das vertraute Pfarrhaus mit ih­ren noch "minorennen" Kindern verlassen. Zu den­ken wäre auch an eine weitere Ur-Urgroßmutter, Johanna Friederike Eberhardt, geb. Weis­heit, die nach dem frühen Tod ihres jungen Mannes ihre beiden kleinen Kinder als Waschfrau aufzog. Waren die nicht alle "arm"?

Kinderjahre beim napoleonischen Heer

Ich will von der armen Catharina erzählen. Geboren wird sie als Catherine Henry am 10. Juli 1807 in Mainz[1]. Ihr Va­ter, "officier du Genie attaché à la grande armée", ist bei ihrer Geburt laut Zeugnis der Hebamme "Eve" Kraus "absent". Eva Kraus hat sich sicher "määnzisch" aus­gedrückt: "De Papa is mitm Napoleon wech". Aber der Geburtsakt der kleinen Catherine muß in korrektem Französisch auf­ge­setzt werden, denn Mainz gehört zu Napoleons Kaiserreich. Catherines Mutter ist Françoise Jo­se­phe Henry, geb. Blandin. Sie wohnt "au quar­tier de la Gendarmerie mariés". Das Elternpaar  hat am 14. September 1802 in Saarlouis[2], das damals ganz revolutionär Sarrelibre hieß, standesamtlich geheiratet. Dort lebte Françoise Josephe bei ihren Eltern und dort stand der damals 30jährige Pierre Henry "en Service Chez le Général Daultanne".Dieser General Daultanne, keiner der ganz großen Generäle Napoleons, aber doch ein bewährter Heerführer und deswegen in der Literatur nachweisbar, ist von 1802 bis 1818 der Chef meines Vorfahren Henry. Deswegen nehme ich an, dass Catherines Vater sich immer dort befand, wo der General Daultanne war. Denn mehr lässt sich über den kleinen "officier du génie" Pierre Henry im riesigen napoleonischen Heer nicht herausfinden.Im Juli 1807 ist General Daultanne Gouverneur in Warschau. Dort könnte der Adjutant Pierre Henry unter lauter dienstlichen Nachrichten auch die Nachricht von der glücklichen Geburt einer Tochter erfahren haben. Da zwischen dem Herbst 1807 und dem September 1808 kein Feldzug stattfindet, könnte die junge Familie für kurze Zeit vereint gewesen sein. Danach macht sich Napoleon, und in seinem Gefolge General Daultanne, in den Spanienfeldzug auf. Ob Madame Henry mit Catherine dem Heer folgt? Auf jeden Fall haben die Eltern sich 1809 noch einmal getroffen, denn 1810 wird irgendwo Catherines einzige eheliche Schwester Gertraud geboren, das geht aus dem Sterbeeintrag dieses Kindes hervor[3]. Aber nach 1810 ist der Krieg in Spanien so verzweifelt, dass man kaum glauben kann, dass Frauen und Kinder noch beim Heer gewesen sind. Wie soll man sich diese ersten Lebensjahre von Catherine vorstellen? Unruhig sicher, in wechselnden Garnisonen, im Tross des Heeres, mehrsprachig auch, denn Napoleons Soldaten kamen aus vielen Nationen. Wahrscheinlich auch unbekümmert, mit Geld versorgt, gut aufgehoben in der Solidarität der Soldatenfrauen. Die Mutter Françoise wird sich in Deutsch und Französisch beholfen haben, schließlich war sie eine Saarlouiserin. Und die kleine Cat­herine wächst mit dieser "Mutter­sprache" auf und mischt Wörter aus aller Herren Länder unter die vorherrschende französi­sche. Ihre Sprachsoziali­sation ist auf jeden Fall eine unorthodoxe. Sie kann vieles, nichts richtig. Arme Catharina!

Kinderjahre in Frankreich

Spätestens 1815 kommt sie nach Frankreich. Catherine ist in diesem Jahr acht, ihre jüngere Schwester Gertraud etwa fünf Jahre alt. Das napoleonische Heer ist geschlagen, es muss Rußland, Spanien, Deutschland räumen. Ob Françoise Josephe Henry mit ihren beiden Töchtern nach Meung-sur-Loire geht in der Hoffnung, dort ihren Mann zu treffen, oder ob sie die historische kleine Stadt mit der alten Burg wählt, weil dort Verwandte von ihr leben - die Schneiderfamilie François Charles Blandin - werde ich wohl nie erfahren. Jedenfalls spricht man hier nur französisch. Catherine müsste eigentlich zur Schule gehen. Aber wahrscheinlich kränkelt die Mutter schon, und Catherine lernt, den Haushalt zu führen. Zu schreiben lernt sie jedenfalls nicht. Arme Catharina!Catherines Mutter Françoise Blandin stirbt am 28. Juli 1818 in Meung-sur-Loire, in einer Mietwohnung in der Rue des Cordeliers[4]. Catherines Vater ist abwesend. In dem standesamtlichen Sterbeeintrag wird er als "homme de confiance de Géneral Daultanne" bezeichnet. Daultanne ist um diese Zeit Kommandeur der Garnison Saint-Louis bei Basel. Für Catherine ist es, als hätte sie keinen Vater. Sie ist beim Tod der Mutter 11 Jahre alt. Arme Catharina!

Jugendjahre in Saarlouis

Wann die beiden Töchter Henry nach Saarlouis kommen, belegen meine Urkunden nicht. Jedenfalls aber sind sie beide 1828 dort. Und aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie gleich nach dem Tod der Mutter zu den Großeltern gekommen - hätten die Verwandten in Meung sie behalten können und wollen, so wären sie als Erwachsene kaum zu den Großeltern zurückgekehrt.Die Großeltern, Catherine Barbe und Jacque Norbert Blandin, sind als Erzieher nicht zu verachten. Sie haben ein unkonven­tionel­les Leben geführt, provinzielle Enge dürfte ihnen fernliegen, vier Kinder haben sie unter schwierigen Verhältnissen aufgezogen. Sie betreiben eine Gastwirtschaft[5]. Sie sprechen nach wie vor den Saarlouiser Dialekt, aber die Amtssprache ist jetzt Deutsch. Sarrelibre heißt wieder Saarlouis und gehört dank der Entscheidung des Wiener Kongresses zu Preußen. Aus Catherine wird Catharina. Die Blandins bedienen in ihrer Wirtschaft die preußischen wie vorher die französischen Soldaten, denn Saarlouis ist immer Garnison.  Sicher wird Catharina zur Mitarbeit herangezogen. Sie ist jetzt, 1819, etwa 12 Jahre alt. An Schulbesuch ist wieder nicht zu denken. Arme Catharina!Eine Tante von ihr, Susanna, hat 1809 16-jährig den englischen Schiffskapitän John Sander­son geheiratet, der zu den 1000 englischen Kriegsgefangenen Napoleons in Saarlouis gehör­te. Eine andere Tante hat einen italienischen Stuckateur namens Angelo Lazzari zum Mann. Onkel Jean Pierre Blandin hingegen, der Familienchef nach ihrem Großvater, hat die Schwester des Pariser Weihbischofs Martin Bervanger zur Frau[6]. Catharina wird beobachten, hören, Schlüsse ziehen. Ob sie ihrer Großmut­ter vertraut? Ist es deren Rat, dass Catharina nähen lernt? Oder müssen die drei Frauen, als der Großvater 1822 stirbt, notgedrungen die Soldatenkneipe schließen? Jedenfalls ist Catharina Henry die einzige meiner Ur-Urgroßmütter, die einen Beruf hat vor der Ehe: Nätherin. Es bedeutet, dass sie den Soldaten ihre Uniformen ausbessert.Dabei wird man nicht reich. Aber muss sie deshalb den Kopf haben hängen lassen? Vielleicht war sie eine lustige kleine Person, ein bisschen leichtblütig, da­bei zielstrebig. Vielleicht hat sie bei der Arbeit gesungen und gelacht? Und vielleicht hat ihr der junge Hoboist Franz Jo­seph Mehring aus dem 29. Infanterie-Regiment, dem Dritten Rheinischen, wirklich gefallen, wenn er so vorbeimar­schierte mit der Militärmusik in schmucker Uni­form. Schließlich war sie ein Soldatenkind.Sie fühlen, dass sie gut zusammenpassen. Sowohl die Merings als die Blandins haben bessere Tage gesehen. Man kann von Großonkeln und Urgroßvätern  sprechen, die Ämter und Würden hatten. Aber die Zeiten sind hart. Die beiden jungen Leute sind ganz auf sich ge­stellt. Es wäre möglich, dass sie sich in dem Wunsche finden, wieder auf einen grünen Zweig zu kommen.

Die Verheiratung mit Franz Joseph Mehring

Dass es so lange dauert, bis Franz Joseph Mehring seine Papiere beieinander hat, ist ja nicht die Schuld des jungen Paares. Freilich ist bei der Heirat vor dem "Civilstandsbeamten" Ma­thias Lei­nen Catharina schon hochschwanger. Am 18. Februar 1828[7] aber können beide Eheleute  ihre Ge­burtsscheine endlich vorlegen: die Saarlouiserin Catherine ist in Mainz geboren, der Rheinländer Franz Joseph in Kopenhagen. Beide wissen nicht, wo ihre Väter sich befinden. Und beide haben keine Mutter mehr[8]. Soldaten­kinder. Franz Joseph hat ein Attest seines Königlichen Garnison Audi­teurs Schmelt­zer und ein At­test seines Regiments-Com­mandeurs, des Königlichen Obersten Herrn von Sacken, zum Beweis sei­ner Identität, Catharina hat ihre 76 Jahre alte Großmutter, die  in die Heirat einwilligt. Die Zeugen sind außer dem Schuster Jacob Potdevin, der ein Vetter der Braut sein soll, nicht mit den Braut­leuten verwandt, alles deutsche Na­men und Männer ohne Gewerbe. Und Catharina, ihr Vetter und ihre Groß­mutter geben an, nicht schreiben zu können, als sie ihren Namen unter den Heiratsakt setzen sollen. Arme Catharina!Knapp einen Monat später, am 10. März 1828,  wird ihr erster Sohn geboren[9]. Er heißt Mathias wie der Standesbeamte - aber auch wie die adeligen Großonkel von Franz Joseph, Ma­thias Henrich und Mathias Melchior von Mering. Ob da ein Anspruch sichtbar wird? Oder ob nur ein Name wieder Mode ist? Patin ist die kleine Schwester von Catharina, Gertraud Henry. Noch ein zweites Kind wird in Saarlouis geboren, Hein­rich, am 26. Juni 1830[10]. Auch das ist ein Name, der bei den Merings eine Tradition hat. Zwei Kölner Domherren hießen so. Diese beiden Urenkel hat die Großmutter Blandin noch erlebt. Im August 1830 stirbt sie, 78 Jahre alt. Die erste Urenkeltochter Magdalena, geboren am 1. September 1832, erlebt sie nicht mehr, aber auch nicht den Tod ihrer Enkelin Gertraud im gleichen Jahr und, was vielleicht noch härter für sie wäre, nicht 1833 die Verlegung des 29. Infanterie-Re­giments  von Saarlouis nach Koblenz. "Nach den im Jahre 1833 bei Trier abgehaltenen Herbstübungen marschirte das Regiment nach Coblenz, welches ihm von Neuem als Garnison angewiesen worden war. Es rückte am 25. September in Coblenz ein."[11] So steht es in der Regiments­geschichte.

Umzug nach Koblenz

Die arme Catharina bleibt mit drei kleinen Kin­dern im Logis für verheiratete Unteroffiziere in den Kasernen von Saarlouis. Irgendwie muß sie nachziehen. In Koblenz haust der preußische Soldat mehr recht als schlecht in den Kasematten der Veste Alexander auf der Karthause[12]. Das steht auch als Adresse von Franz Joseph Mering in den Koblenzer Geburtsakten seiner Kinder. Im Stadtarchiv in Koblenz schüttelt Archivar Schmidt den Kopf, als er mit mir die Pläne der Veste aus den Jahren 1830 bis 1840 betrachtet: "Ausgeschlossen, dass in diesen Kellerräumen auch Frauen und Kinder gewohnt haben. Schauen Sie sich nur die Einrichtung der Unteroffiziersstuben an! Sicher hatte Frau Catharina eine kleine Mietwohnung in der Stadt, wo ihr Mann sie, so oft er dienstfrei hatte, besuchte!" Ja, ich weiß es nicht. Dienstfrei hatten preußische Unteroffiziere nur sehr selten. Und der Sold war knapp. Catharina muß flexibel sein. Vielleicht hat sie es fertig gebracht, in Nähe der Veste Alexander unterzukommen. Jedenfalls wird 1836 Peter geboren, der vielleicht wegen der schlechten Wohnung noch im selben Jahr "an Stickfluß" stirbt. Auch Magdalena stirbt als Kleinkind. Arme Catha­rina!1838 wird  Karl, 1840 wird Johanna geboren. Nach drei lebenden Söhnen hat das Paar nun eine lebende Tochter. Patin dieser Tochter ist Johanna Neufert, Dienstmagd. Immerhin hat die junge Mutter eine Hilfe, vielleicht näht Catharina wieder für die Soldaten. Sie ist jetzt 33 Jahre alt. Ich wünschte ihr, dass sie trotz aller Härten ihres Lebens mit ihrer Familie glücklich ist.

Umzug nach Herongen

1842 verläßt Franz Joseph Mering das 29. Infanterieregiment und wird Grenzaufseher. "Das wenige Jahre nach dem Wiener Kongreß am 26. Mai 1818 verabschiedete preußische Zollgesetz erzeugte mit der festen Grenze ein Wirtschaftsphänomen ganz neuer Art, das unabdingbar mitderExistenz einer Grenze verbunden ist: den Schmuggel."[13] Dagegen setzte die preußische Regierung neben den eigentlichen Zollbeamten Grenzaufseher ein, die "im wesentlichen aus Unteroffizieren, Feldwebeln und Wachtmeistern des stehenden Heeres rekrutiert" wurden. "Die Militärpersonen durften nicht älter als 40 Jahre sein, mußten mindestens neun Jahre gedient haben sowie rechnen und schreiben können".[14] Diese Voraussetzungen erfüllt Franz Joseph. Und er wird nach Herongen geschickt, wo 1843 sechs stationäre Grenzaufseherposten genannt werden.[15] Doch welche Umstellung das noch einmal für Catharina bedeutet!Ich denke an einen Umzug von der Karthause in Koblenz, wo sie nun 9 Jahren gelebt hat, nach Herongen am Niederrhein, mit 4 Kindern, der älteste Sohn 14, das kleine Mädchen 3 Jahre alt, mit der Magd Johanna, zu Schiff  wahrscheinlich, dann mit dem Pferdefuhrwerk, der Hausrat, die Kleidung in Kisten, in Säcken, Lebensmittel im Korb. Wahrscheinlich kann der Mann nicht helfen. Der hat sofort seinen Dienst antreten müssen. Wie mag ihr Herongen erscheinen? Das flache Land, das kleine Dorf? Die Bewohner sprechen oft noch niederländisch, auf jeden Fall plattdeutsch. Wie kann sie sich verständigen? Wer kommt ihr freundlich entgegen? Die Grenzaufseher sind nicht beliebt, das bestätigen mir alle Kenner der Region: Die Herren Brimmers und Keuck im Stadtarchiv Straelen, Herr Schopman aus Walbeck, Herr Jennen aus Wachtendonk. Grenzaufseher sollen auch nicht beliebt sein, denn nach dem Willen des preußischen Staates sollen sie dem Schmuggel wehren, in den viele Heronger Familien verstrickt sind. Die Regierung bezahlt Franz Joseph Mering nicht umsonst viel besser als vorher in Koblenz[16]. Er soll sich nicht bestechen lassen! Zwölf Stunden täglich, davon vier in der Nacht, muß er an der Grenze patrouillieren. Als ehemaliger Infanteriesoldat wird Franz Joseph nicht beritten sein, aber bewaffnet ist er. Er ist fremd hier, die Schmuggler hingegen kennen sich aus, haben Verwandte auf beiden Seiten der Grenze, bei denen sie unterschlüpfen können. Ob Catharina Angst um ihn hat? Die meisten andern Grenzaufseher sind evangelisch, für die katholische Grenzaufsehersfrau bleiben wenige Familien zum freundschaftlichen Umgang: der Grenzaufseher Burckhardt, Familie Schuh, Petrus Mathias Fonken, die Neuenhausens, Grenzaufseher Eckert, der Schuster Rutten und sein Sohn, der Polizeidiener Holzschneider. Die kann man dann bitten, bei der Geburt von Kindern Zeuge auf der Bürgermeisterei in Wankum oder Pate in der Kirche von Herongen zu sein. Denn das nächste Kind des Paares wird in Herongen geboren und getauft, als Sohn des "Grenzaufsehers Franz Joseph Mering". Es ist mein Urgroßvater Peter Joseph. Er trägt die Vorna­men beider Familien: Peter von den Henrys, Joseph von den Merings. "1843, Januar 10. bapt. est Petrus Josephus filius legitimus Francisci Mering et Catharina Henri. Patrini: Petrus Mathias Fonken et Nanetta Schuh."[17] Und in der standesamtlichen Anzeige der Bürgermeisterei Wankum[18] steht als Adresse des Vaters: "wohnhaft zu Herongen in dem Dorf  im Hause Nr. 22". Das ist, wie Herr Josef Jennen aus dem Archiv in Wachtendonk mir freundlicherweise heraussuchte, das spätere Haus Nr. 43, das um 1884 der Witwe Peter Johann Maasen gehörte. Danach haben die Merings in Herongen mitten im Dorf, nicht weit von der katholischen Kirche, zur Miete gewohnt. Auch das achte und letzte Kind dieses Paares wird am 20. Juli 1845 in Herongen  geboren: Friedrich. Catharina ist nun 38 Jahre alt. 10 Jahre auf Erden bleiben ihr noch. Arme Catha­rina!

Ausbildung der Kinder

Franz Joseph ist nach allem, was die Urkunden sagen, ein Mann, der weiß, was er will. Er wollte Catharina und setzte die Heirat mit ihr trotz eines umständlichen Papierkriegs durch. Er wollte weg vom Heer, in dem sein Vater und sein Großvater so viel Unglück hatten. Die Zeitläufte erlaubten ihm den Übertritt in den Zoll- und Steuerdienst, ein typischer Ausweg für Solda­ten in Preußen. Aber seine Söhne sollten da nicht bleiben. Sie sollten alle ein Handwerk lernen.Ob Catharina das unterstützt hat? Oder ob sie es sogar war, die ihrem Ehemann den Abschied vom Heeresdienst und den Übergang in den Beruf des Grenzaufsehers nahegelegt hat? Dass Frauen ihr Leben nur passiv erduldet haben im 19. Jahrhundert, trifft ja auf mehrere meiner Ur-Urgroßmütter nicht zu. Durch ihre nomadische Kindheit hatte Catharina keine Angst vor der Fremde. Und sie war Nätherin. Vielleicht hat sie auch in der Ehe manche Lücke im Budget mit ihrer Hände Arbeit ausgeglichen. Auf jeden Fall war die Tatsache, dass sie Nähen gelernt hatte, gut für den Haushalt und für ihre sechs lebenden Kinder.Ich könnte mir vorstellen, dass der letzte Umzug in ihrem unsteten Leben, der von Herongen nach Walbeck, auf ihre Initiative zurückging. Von Herrn Wilfried Färber habe ich gehört, dass über die katholische Dorfschule in Herongen immer geklagt wurde: die Kinder lernten zu wenig. In Walbeck aber war seit 1809 ein tüchtiger Lehrer tätig: Peter Brücker. Mit Hilfe eines Unterlehrers unterrichtete er die Kinder in zwei Klassen, schon in der alten Kaplanei. Und er erreichte, dass die Gemeinde Walbeck "endlich 1845 ein neues einstöckiges Schulhaus mit zwei geräumigen Unterrichtsräumen an der Hauptstraße"[19] erbaute. Da den Merings an einer soliden Ausbildung ihrer Söhne gelegen war, könnte die neue Schule in Walbeck ein Grund zum Umzug gewesen sein. Mathias und Heinrich waren um diese Zeit schon in der Lehre, aber meinen Urgroßvater Peter, seinen älteren Bruder Karl, seine Schwester Johanna und seinen jüngeren Bruder Friedrich kann ich mir zwischen 1847 und 1855 als Schulkinder an dieser Schule denken. Sicher sprachen sie prima plattdeutsch, so sehr der Lehrer auch schimpfte. Und sie gingen in Holzschuhen, wie auch ich sie als Schulkind getragen habe.Mathias wird Schuster, Heinrich wird Maurer, später Stuckateur, Karl wird Schlosser, später Maschinenbauer in Hamburg. Peter wird Stuckateur, nennt sich später Figurist, Friedrich wieder Schuhmacher, später ist er Verwalter der Burg Rheinfels. Lehrstellen waren damals knapp. Und die Eltern mussten während der lan­gen Lehrzeit voll für ihre Kinder aufkommen.Catharina hat noch erlebt, dass ihre ältesten Kinder im Brot waren. Heinrich soll schon in Walbeck als Figurist gearbeitet haben, heißt es in den Akten des königlichen Heroldsamts von Berlin[20]. Die Hochzeit von Mathias und die Geburt ihres ersten Enkels Franz Joseph am 13. Juli 1856 in Koblenz erfährt sie jedoch nicht mehr. Arme Catharina! Sie stirbt am 15. Juli 1855 in Wal­beck.Ob sie je richtig Deutsch sprach? Ob sie noch Plattdeutsch lernte? Wahrscheinlich blieb sie ihr Leben lang beim Saarlouiser Dialekt, komisch für ihre Nachbarinnen am Niederrhein. Fühlte sie sich als Preußin? Kannte sie überhaupt ein Heimatgefühl? Wie mag sie das Revolutionsjahr 1848 erlebt haben?

Der Tod der armen Catharina

Vielleicht hat sie immer noch gern gelacht - und nahm alles nicht so ernst, nicht die Sprache, nicht das Fremdsein, nicht die Armut, nicht einmal ihre To­deskrankheit, wenn nur die Kinder gut und tüchtig gediehen. Woran mag sie gestor­ben sein? Auf dem schönen Friedhof von Walbeck ist Catharina begraben. Ich bin dort spazieren gegangen, habe eine rote Rose zu Füßen der Mutter Gottes beim Kreuz niedergelegt und ein Vaterunser gebetet. Sicher gab es damals noch nicht so viele prächtige Bäume hier, der Friedhof war erst 1828 angelegt worden[21]. Und ich weiß nichts über Catharinas persönliche Frömmigkeit. Sie gehörte bis zuletzt der katholischen Kirche an, das bezeugt das katholische Kirchenbuch von Walbeck: "1855, Nr. 19: 15. Juni mortua et 18. ej. sepulta est Catharina Haary, uxor domini Meering, aetate 48 annarum." Ihr Grab verfiel bald, denn schon 1859 ist niemand von ihrer Familie mehr in Walbeck. Franz Joseph ist jetzt "Steuer-Aufseher" in Koblenz[22], mit 55 Jahren hatte er Anspruch auf Bürodienst. Auch die Söhne sind dort gemeldet. Und wer von den Walbeckerinnen wird zum Grab der Grenzaufsehersfrau gegangen sein? Catharinas Sterbeurkunde ist so grausam nüchtern: Bürgermeisterei Walbeck, Kreis Geldern, Regierungs-Department DüsseldorfJahr 1855Sterbeurkunde Nr. 19Im Jahr tausend achthundert fünf und fünfzig, den sechszehnten Juni, Morgens, acht Uhr, erschienen vor mir Louis Leenen, Beigeordneten Bürgermeister von Walbeck, delegiert als Beamter des Personenstandes, der Ernst Blume dreiundvierzig Jahre alt, Grenz-Aufseher wohnhaft zu Walbeck, welcher ein Nachbar der Verstorbenen zu sein angab und der Ehrenfried Rudolph achtundvierzig Standes Grenz-Aufseher, wohnhaft zu Walbeck welcher ein Bekannter der Verstorbenen zu sein angab, und haben diese beiden mir erklärt, daß am fünfzehnten des Monats Juni des Jahres tausend achthundert fünfundfünfzig Nachmittags neun Uhr verstorben ist Catharina Haary Ehefrau von Franz Mering gebürtig zu Saarlouis, Regierungs Departement Trier, acht und vierzig Jahre alt, Standes Grenz-Aufsehersfrau wohnhaft zu Walbeck Regierungs Departement Düsseldorf, Tochter von den verstorbenen Eheleuten Inginier Offizier Peter Haary und von Catharina Blonde, der Sterbeort unbekannt. Nach geschehener Vorlesung haben die beiden Zeugen gegenwärtige Urkunde mit mir unterschriebengez. Blume  gez. E. Rudolph                            gez.   Louis Leenen

 

Catharina von Mering

Arme Catharina! Aber es gibt natürlich Schlimmeres, als dass der Name des Vaters verball­hornt und die Großmutter der Verstorbenen für die Mutter gehalten wird - und zwar vom eigenen Mann; denn er war es ja wohl, der die Angaben machte, war er doch in Wal­beck der einzige, der Catharinas Lebensgeschichte kannte. Bei der Ge­burt von Friedrich hatte er den Geburtsnamen seiner Frau so­gar mit Ploteng angegeben, man denke: Ploteng statt Blandin. Und sie hieß doch Henry! Mein Urgroßvater erklärt 1893 diese Unstimmigkeit dem Kö­niglichen Heroldsamt in Berlin damit, "daß die betr. Frau Franz Mering in frühester Jugend verwaist und bei einer nahen Verwandten, Namens Ploteng erzogen worden ist, so daß sie allgemein nicht anders als Katharina Ploteng genannt wurde. Dieser Name war so gang u. gäbe geworden, daß sogar ihr Mann erst kurz vor der Trauung den richtigen Namen erfuhr. Nur so ist es erklärlich, daß bei Anzeige der Geburt des Kindes der Vater aus Versehen als Familiennamen seiner Frau den Namen Ploteng angab."[23] Es scheint, als hätte der Sohn wenig Wert darauf gelegt, dass Catharina die Tochter eines napoleonischen Offiziers war. Vielleicht war es ihm peinlich. Denn inzwischen war man gut deutschnational. Und Peter Joseph von Mering schrieb an den preußischen König und deutschen Kaiser um Wiederherstellung seiner Adelsrechte. Ploteng! Aber wahrscheinlich sprach sie es selbst so aus, die Saarlouiserin.Dass sie posthum in die rheinische Adelsmatrikel aufgenommen wurde, davon hatte sie ja keine Ah­nung, meine Vorfahrin Catharina von Mering, geb. Henry. Vielleicht hätte sie darüber ge­lacht!

[1] Geburtsregister der Stadt Mainz von 1807, Nr. 617.

[2] Heiratsregister der Stadt Saarlouis vom Jahre 1802.

[3] Nach den Computerauszügen von Familienforscher Gernot Karge in Saarlouis, angefertigt nach den Aufzeichnungen von Dr. W. Wallraff.

[4] Sterberegister der Mairie von Meung-sur-Loire von 1818.

[5] Gernot Karge, a.a.O.

[6] Gernot Karge, a.a.O.

[7] Heiratsregister der Stadt Saarlouis von 1828, Nr.6.

[8] Dass Franz Josephs Mutter tot ist, weiß er vermutlich ebensogut wie ich, doch da er keine Sterbeurkunde hat, behauptet er, sie sei abwesend.

[9] Taufregister im Kirchenbuch des Königl. Preuß. 29t. Infant. Regiments (3t. Rheinisches) von 1828.

[10] Geburtsregister der Stadt Saarlouis von 1830, Nr. 96.

[11] Albert Gebauer, Geschichte des Königlich Preußischen 3. Rheinischen Infanterie-Regiments Nr. 29., Trier 1865, S. 74.

[12] Rüdiger Wischemann, Die Festung Koblenz, Koblenz 1978, S. 80.

[13] Bernhard Keuck, Vom Schmuggel an der Grenze in: 1100 Jahre Herongen, S. 155.

[14] Volker Jarren: Schmuggel und Schmuggelbekämpfung in den preußischen Westprovinzen 1818 - 1854, Paderborn 1992, S. 56.

[15] Bernhard Keuck, a.a.O. S. 155.

[16] 240 Taler im Jahr, zusätzlich Gratifikationen aus den beschlagnahmten Waren, Jarren, a.a.O., S. 58f.

[17] Taufregister des Katholischen Kirchenbuches Herongen von 1843, Kopie im Stadtarchiv Straelen.

[18] Geburtsregister der Bürgermeisterei Wankum von 1843 im Stadtarchiv Wachtendonk, Kopie erhalten von Herrn Josef Jennen.

[19] Gerhard Oppenberg, Walbeck, Walbeck 1968, S. 118.

[20] Zentrales Staatsarchiv Berlin, Königl. Heroldsamt, Rep. 176, M 181.

[21] Gerhard Oppenberg, a.a.O., S. 189.

[22] Adreßbuch der Stadt Koblenz von 1859.

[23] Brief vom 15. 5. 1893 im Zentralen Staatsarchiv Berlin, Königl. Heroldsamt, Rep 176, M 181, Kopie im LHA Koblenz, Best. 403, Nr. 9753.

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