Windmüller in Kobylin

Unsere Vorfahren im heutigen Polen

(Siehe dazu die "Liebert-Stammliste" unter "Abstammung")


Mein Großvater mütterlicherseits gilt als Schlesier. Er hieß mit vollem Namen Paul Otto Alfred Liebert und wurde am 22. August 1869 in Guhrau (heute Góra) in Niederschlesien geboren. Guhrau war die Heimat seiner Mutter Emma Saur. Sein Vater Otto Liebert war erst als junger Eisenwarenkaufmann aus Lissa dahin gekommen, hatte geheiratet und mit Hilfe der Mitgift seiner Frau ein schönes Eisenwarengeschäft gegründet. Das Kind Paul kannte seine Guhrauer Großmutter gut. Fasziniert zitiert noch der alte Mann diese Mutter seiner Mutter, nämlich Amalie Saur, geb. Matthie, die von mehreren Generationen Windmüllern namens Saur in Guhrau zu erzählen wußte:"Wie die Guhrauer Müller ihre Mehlsäcke mit Wagen in tagelanger Fahrt nach Berlin brachten und dabei auch bis zum König, dem alten Fritzen, gelegentlich vorstießen mit ihren Wünschen, und dann im Wagen ihre Geldsäcke nach Hause brachten. - Bei einer solchen Fahrt ist auch mein Urgroßvater beim König mit Erfolg vorstellig geworden zur Änderung seines Namens Sauer, deren es in Guhrau mehrere gab, in Saur - wohl aus seinem Müllerstolze heraus!

Ein typisches Guhrauer Stadtbild, dessen ich mich noch erinnere, war es, wenn die angesehenen, vermögenden Müller von der Alt-Guhrauer-Straße aus dem Topfenmarkt in ihren Müllerpelzen (Schafspelze, rauhe Seite nach außen) mit ihren langen Pfeifen und ihren Laternen in die Reizig'sche Brauerei zum Abendschoppen gingen. Die aufkommenden Dampfmühlen in der Umgebung von Guhrau, z. B. in Wohlau, Steinau pp ließen die Bedeutung der Windmühlen verschwinden; einst standen bei Guhrau – sagt man – 99 Windmühlen, die 100ste brannte der Legende nach immer ab. Mühlen aber stehen jetzt noch um Guhrau herum."

Die Kindheit meines Großvaters Paul Liebert waren die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts. Großmutter Amalies Jugend fiel in die Zeit der Napoleonischen Kriege. Bei dem "Urgroßvater" Sauer, der beim "alten Fritzen", also Friedrich dem Großen, um Namensänderung vorstellig wurde, kann es sich daher kaum um ihren Schwiegervater gehandelt haben. Der von den evangelischen Schlesiern so verehrte König starb schon 1786. Es müsste der Großvater ihres Mannes und also der Ururgroßvater von Paul Liebert gewesen sein. Wenn die Erzählung von der Namensänderung durch den großen König stimmt, konnte die Guhrauer Familie Saur auf mindestens drei Generationen Windmüller in Guhrau zurückblicken. Da das evangelische Kirchenbuch von Guhrau verloren ist, kann ich das nicht nachprüfen.

Nachprüfen lässt es sich aber in Kobylin in der Provinz Posen, woher sein Großvater väterlicherseits stammte. Pauls Lissaer Großmutter Charlotte Liebert, geb. Zytowski, hätte ihren Enkeln davon erzählen können. Offenbar tat sie es nicht. Aber die Kleibers in Lissa, die Schurtzmanns und die Kammers in Kobylin haben, wie das Kirchenbuch beweist, schon vor dem Nordischen Krieg auf Windmühlen gesessen.

Im evangelisch-lutherischen Kirchenbuch von Kobylin fand ich: "J.N.J. Im Jahre 1710 den 10 Octobr. wurde mir Mattheo Hansi Hoyerswerda fasato, damahls Ephorie der Adelnau in Großpolen die Vocation unverhofft an der Gränze durch HE. Heinrich Schreibern, Kirchen Eltester nebst noch einigen Deputatoren ausgehändiget, worauf ich den 16. huj. in Sorau in der Niederlausitz zu Pastore in Koblin rite ordiniret worden. Die Anzugs Predigt verrichtete ich Dom. XX p. Trinit. auf dem Felde bey den 3 Mühlen, die anderen hernach in der Scheuren. Gott, seegne meine Arbeit in dem Herrn reichlich und laß mich alle meine Zuhörer dermaleinst im Himmel finden. Amen."

Die drei Mühlen auf dem Felde waren als Predigtort gewählt, weil die Pestepidemie, die im Gefolge des nordischen Krieges 1709 die Gegend heimgesucht hatte, noch nicht erloschen war. Ob auch die Scheune als vor Ansteckung sicherer galt oder ob sie in der schlechter werdenden Jahreszeit benutzt wurde, weil die Kirche noch vom Krieg zerstört war, weiß ich nicht. Die drei Mühlen von Kobylin aber waren offenbar ein signifikanter Punkt im Gelände. Aus dem Kirchenbuch geht nicht hervor, ob sie den Krieg heil überstanden hatten. Aber sicher waren sie als erstes wieder in Gang gesetzt worden, um die ersehnte neue Ernte zu mahlen.

Aus dem kurzen Bericht des offenbar noch jungen Pfarrers Matthäus Hansen höre ich zweierlei sofort heraus: 1. Er ist sehr erfreut über die unverhoffte Vocation zum Pfarramt und 2. er kommt in armselige kirchliche Verhältnisse.

Kobylin hat, das sieht man auf den Meßtischblättern des Deutschen Reiches, eigentlich zwei Ortskerne. Der eine ist ein Haufendorf, Alt-Kobylin genannt, der andre ist ein kleiner "Ring" von Bürgerhäusern um einen Markt, wie ihn alle Kolonialstädte im Osten haben. Nach dem Städtebuch der Provinz Posen von Heinrich Wuttke hat Kobylin selten mehr als 1500 Einwohner besessen. Davon waren um 200 Juden, von den übrigen die Hälfte Polen, die Hälfte Deutsche.

Wie die Deutschen nach Kobylin kamen, das doch seit eh und je zum polnischen Königreich gehörte, wird in diesem Buch so erklärt: Der polnische Grundherr der Stadt, Peter Sziminuta von Lachowo, lud noch im Dreißigjährigen Krieg die vorm katholischen Habsburger aus Schlesien fliehenden Lutheraner nach Kobylin ein. Heinrich Wuttke hat die Urkunde gesehen. Sie ist vom 6. 9. 1637. In diesem Schreiben setzt der Grundherr die Einwanderer "deutschen Geblüts von aller Dienstbarkeit frei" und stiftet auch Geld zum Kirchenbau. Das evangelisch-lutherische, in reinem Deutsch geschriebene Kirchenbuch, in dem ich lese, setzt 1642 ein. Bis 1656 ist es vollständig, dann fehlen 5 Jahre, von 1661 geht es bis 1689. Dann kommt die Lücke des Nordischen Krieges. 1709 fängt es wieder an und kämpft sich mit kleineren Lücken durch bis 1793, wo Kobylin zum ersten Mal an Preußen kam. In diesem Kirchenbuch sind unsere Vorfahren, die Windmüllerfamilien Schurtzmann, Kammer und Liebert, verzeichnet.

In Zeiten der Toleranz wundert man sich, daß die Konfession diesen Protestanten so wichtig war, daß sie ihr Vaterland Schlesien deswegen verließen. Schließlich flohen sie nicht vor den Türken! Aber evangelisch zu sein, muß schon hundert Jahre nach der Reformation so eng mit der Identität zusammengehangen haben, daß man nicht mehr katholisch werden konnte, ohne sich selbst zu verraten. Und so wanderten sie über die Grenze nach Polen. Es war ja nicht weit! Und die Landschaft war die gleiche, von den Nebenflüssen der Oder geprägt, nur weniger besiedelt. Das Wichtigste: der Grundherr nahm sie gerne auf.

Wann die drei Mühlen auf dem Felde erbaut worden waren, müsste ich in der Regionalgeschichte zu finden versuchen. Aber Regionalgeschichte in Grenzgebieten ist ein schwieriges Geschäft. Jede Behauptung ist eingefärbt mit Rechthaberei. "Deutsche haben die Mühlen gebaut" - das wird gelesen als: die Deutschen brachten die moderne Mühlentechnik nach Polen. Sie machten das Land zu dem, was es ist. "Polen haben die Mühlen gebaut" - das wird gelesen als: dies Land ist immer polnisch gewesen, die Deutschen waren Eindringlinge, die sich der besten Positionen zu bemächtigen wussten. Gerne würde ich mich mit einem an sachlicher Aufklärung interessierten polnischen Regionalhistoriker unterhalten. Seit wann gibt es Windmühlen in Kobylin?

Am Ausgang des 18. Jahrhunderts hat es in Kobylin nach Heinrich Wuttkes Städtebuch 22 Mühlen gegeben. Ob das alles Windmühlen waren, ist nicht gesagt. Auch nicht, ob alle Windmühlen Getreide mahlten. Darüber wüsste ich gern mehr. Dass aber die deutschsprachigen, evangelischen Schurtzmanns, Kammers und Lieberts, von denen wir abstammen, Windmüller waren, ist gut belegt. Und auch viele der mit ihnen verschwägerten Familien, wie die Pflegels, die Schades, die Tschepkes, die Sachwehs, die Patzkes waren Windmüller.

Die Windmühlen waren nicht Eigentum der Müller. Sie gehörten, so habe ich gelernt, den Städten oder dem Adel. Trotzdem ist es nicht ganz verkehrt, wenn man die Mühlenmeister auch "Mühlenbesitzer" nennt. Auf einer Mühle arbeiteten oft mehrere Müller, schon des Schichtdienstes rund um die Uhr wegen, aber einer war der Pächter. Sicher musste er Meister sein. Offenbar waren die Pachtverträge langfristig, wurden Gewohnheitsrecht, der "Mühlenbesitzer" konnte bei der Wahl seines Nachfolgers ein Wort mitreden. Wenn sein Sohn als Müller gut einschlug, hatte er die Mühle so gut wie sicher, aber auch derjenige hatte dies Vorrecht, der die Witwe eines verstorbenen Mühlenmeisters heiratete. Diese Praxis schließt das Recht einer Besetzung der Mühle durch den adeligen Grundherrn oder den Stadtrat nicht aus: sie mussten zustimmen, sie konnten auch abschlagen.

Es schließt auch nicht aus, dass auf einem Teil der Mühlen polnische Müller saßen. Sie waren katholisch – und katholische Eheschließungen und Taufen stehen nicht im evangelischen Kirchenbuch. Auch dass ein evangelisches Windmüllerkind katholische Paten gehabt hätte, ist nicht Sitte. So kommt die polnische Bevölkerung Kobylins im evangelischen Kirchenbuch nicht vor. Daß es Polen in Kobylin gab, kann man eigentlich nur an wenigen Sachen merken: 1. es gibt zwischen 1710 und 1793 keine Tagelöhner und keine Bauern im Kirchenbuch. Bauern aber waren damals der tragende Stand. Für wen hätten die Handwerker arbeiten sollen? Und ohne Tagelöhner hätte kein Gemeinwesen existieren können in einer Zeit, wo es so viel Handarbeit gab. Es gibt Berechnungen, dass auf jeden Bürgerhaushalt einer Stadt in der frühen Neuzeit mindestens zwei Tagelöhnerfamilien kommen, die durch die anfallenden Arbeiten ein ausreichendes Einkommen haben. Wenn, bis auf wenige Ausnahmen, alle Evangelischen entweder Handwerker oder Krahmer sind, müssen die Bauern und die Tagelöhner polnisch und katholisch gewesen sein.

Ein zweiter Punkt sind die Restriktionen durch den "Herrn Probst", über den die Pfarrer im evangelischen Kirchenbuch oft klagen. Dass der Probst Pole und Katholik ist, habe ich erst nach einer Weile bemerkt. Er führt das Kirchenregiment über die evangelische Gemeinde, als wäre sie nur eine etwas merkwürdig geratene katholische Gemeinde. Die Kirchengesetze und die Verordnungen des Probstes gelten für alle Christen ohne Unterschied. Wenn diese eigensinnigen deutschen Schäflein sich nicht fügen wollen, müssen sie zahlen. Lange Zeit darf der evangelische Pfarrer nur diejenigen Kinder taufen, die von Eltern geboren wurden, die schon bei der Zeugung Bürger von Kobylin waren. Das heißt: Kinder zugezogener Deutschsprachiger werden vom katholischen Priester getauft, es sei denn, sie kaufen sich beim Probst frei. Ähnliches gilt für die Ehen. Kobyliner Bürgerkinder deutscher Sprache haben das Recht, sich von ihrem Pfarrer trauen zu lassen. Ist aber die Braut oder der Bräutigam "von fremdens", muss das Paar sich dazu freikaufen. Wenn das Paar arm ist, traut der evangelische Pfarrer es dann manchmal umsonst, "nur damit die ministerialia bey unserer Kirche blieben". Auch durch diese Praxis scheint als Hintergrund eine funktionierende katholische Gemeinde in Kobylin durch.

Trotzdem fühlen die Evangelischen sich sehr als Kobyliner. Ich erkläre mir das mit dem Expertenbegriff. Da sie meistens Handwerker waren, wurden sie gebraucht. Da sie gebraucht wurden, fühlten sie sich wohl und wichtig und verdienten gut. Besonders Windmüller waren Experten. Sie hatten eine verhältnismäßig lange Ausbildungszeit, denn eine Windmühle war ein technisch kompliziertes Gebilde und der Müller musste sie nicht nur bedienen können, sondern auch reparieren, verwalten, organisieren. Der Mahlbetrieb war außerordentlich wichtig für die Region. Brot war Hauptnahrungsmittel. Und das südliche Großpolen erzeugte viel Getreide, auch für den Export. Vielleicht hatten auch diese deutschen Müller in Großpolen das Recht, ihr Mehl nach Preußen auszuführen und brachten "im Wagen ihre Geldsäcke nach Hause". Aber das ist nur meine Vermutung, noch ohne wissenschaftlichen Hintergrund.

Über das Selbstwertgefühl des Windmüllers fand ich eine interessante Schilderung von Claus Harms in dem Buch "Dithmarschen". Harms Erinnerungen beziehen sich auf seine Jugendjahre von 1792 - 1796 in St. Michaelisdonn. Aber ähnliches könnte auch zwischen 1710 und 1830 für Kobylin gelten. Auch die Mühlen in Kobylin waren Bockmühlen. "Gar manche halbe Nacht hab ich zur Winterszeit in dem bretternen Hause, wie man die Mühle zuweilen nannte, zugebracht, in Arbeit bei gutem Winde, und, was noch schwerer war, ohne sonderliche Arbeit bei schwachem Winde. O, das ist wohl eine lange Zeit, von ein Uhr mitternachts, oder von neun Uhr abends bis sechs Uhr morgens auf der Mühle stehen! Doch es geschah bei gutem Winde mit Lust, bei schwachem aus Pflicht. Bei gutem Winde mit Lust; ich setze hinzu: Bei Tage; denn zu demjenigen hinzu, was bei gutem Winde auf der Mühle beschafft wurde, kam bei Tage eine Art Eitelkeit, die man außer diesem Stande etwa nur bei Schiffern kennt. Die Mühlen standen in einer so geringen Entfernung voneinander, daß weitsehende Augen leicht zwölf bis dreizehn Mühlen sehen konnten. Da galt es denn nun, wer die meisten Segel führen könnte bei stärkerem Winde, und eine Wonne war's, andere Mühlen bis auf halbe Segel, ja bis auf vier Latten hinaufzutreiben. Da wurde gewagt, und auf meines Vaters Mühle, einer Bockmühle, haben mein Bruder und ich manchmal zu gleicher Zeit den Graupengang (Schälgang) und den Mahlgang vorgelegt, was man sonst nur auf holländischen Mühlen tat. Da ging es hart über die Flügel und über das Gebäude her, und, was ein englischer Schiffer bei starkem Segeln von seinem Schiffe sagen soll: 'Es beginnt zu seufzen', das Schiff ansehend als eine Persönlichkeit, so habe ich, wenn das Gebäude bei solcher Anstrengung knarrte und knackte, ein herzliches Bedauern mit demselbigen gehabt...."

Harms erwähnt hier auch den "Müllerstolz", von dem mein Großvater spricht.

Dass Müller auch schief angesehen wurden, am Rande der Dorfgemeinschaft standen, ja, dass sie als "unehrlich" galten und ihre Kinder in vielen Zünften nicht Lehrlinge sein durften – auch das ist richtig. Über die Unehrlichkeit des Müllers haben sich viele Leute Gedanken gemacht. Das Müllerhandwerk sei unfrei, weil der Müller zuerst nur Angestellter des Mühlenbesitzers war. Er wohne am Rande des Dorfes, man könne ihn schwer kontrollieren. Er vertrete eine neue Technik, die den Bauern unheimlich sei. Er habe die Möglichkeit, beim Mahlen Mehl abzuzweigen oder die Qualität zu verringern beim Mischen. Vielleicht gibt es sogar archaische Ängste beim Zerdrücken der Brotfrucht! Am meisten von allen Erklärungen leuchtet mir die von Hans Markus Thomsen ein: "Für die Versorgung der Bevölkerung war der Müller unersetzlich. So unersetzlich, dass er nicht in den Krieg ziehen musste. Genauer: Er durfte nicht, wie auch die Schäfer und Hirten nicht, die ihre Herden nicht allein lassen konnten. Die alte germanische Standeseinteilung war aber durch Waffenrecht und Waffenpflicht bedingt. Wer weder berechtigt noch verpflichtet war, im Heer zu kämpfen, der gehörte zu keinem anerkannten Stand, der war standeslos. Und weil es außer der Waffenehre keine andeutungsweise so wichtige Ehre gab, so war der Müller – nach altem Sprachgebrauch – unehrlich."

Ilka Göbel weist nach, dass es vor allem die Zünfte und Innungen waren, die an der Unehrlichkeit des Müllers festhielten und keinen Müllersohn als Lehrling annehmen wollten, obwohl die Regierungen dagegen immer neue Verordnungen erließen. Wenn man bedenkt, dass die Innungen auch die Verteidigungspflicht an bestimmten Teilen der Stadtmauer hatten, kann man einen gewissen Groll auf die Müller, die von diesem Zwang frei waren, verstehen. Die Müller waren "nicht bewert". Wer aber im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit "nicht bewert" war, war auch nicht satisfaktionsfähig – er hatte das rituelle Fechten nicht gelernt. Dadurch konnte ein Müller einen andern beleidigen, ohne dass man ihn dafür zum Duell herausfordern konnte. Und wenn der Müller beleidigt wurde, konnte er nicht im Zweikampf "wieder ehrlich gemacht" werden. Diese Unehrlichkeit hatte nichts mit Moral zu tun. Sie war Teil des Müllerberufs. Gerade durch sie bildeten sich die Müllersippen und der Müllerstolz heraus. Trotzdem gilt das vielleicht nicht überall. Volkmar Weiss jedenfalls will im sächsischen Erzgebirge und im Vogtland nichts von einer Diskriminierung der Müller bemerkt haben. Und im Fraustädter Ländchen hatten die Müller sogar eine eigene Zunft.

In den schweren Zeiten nach dem nordischen Kriege und während der Pestepidemie war unter den Müllern von Kobylin noch kein Liebert. Doch die Stadtmühlen werden schon 1718 erwähnt. Damals ist Adam Flegel "Müller auf den Stadtmühlen". Die Müllerfamilie Pflegel wird immer Paten und Patinnen für die Müllerfamilie Liebert stellen und 1812 wird Susanna Dorothea Pflegel, eine Müllerstochter, Stiefmutter unseres Ururgroßvaters Daniel Benjamin Liebert. Auch Johann Patzke ist 1718 "Müller auf den Stadtmühlen". Vermutlich ist seine Schwester Anna seit 1709 die Frau eines unserer Vorfahren, des Windmüllers Heinrich Schurtzmann. Leider ist der Heiratseintrag der beiden mit so schlechter Tinte – Kriegstinte – geschrieben, dass der Vater von Anna nicht ganz sicher entziffert werden kann. Er könnte aber Adam Patzke, Bürger und Windmüller in Zduny, gewesen sein. Dass die Windmüller gerne Müllerstöchter heirateten, hing natürlich eng mit dem Beruf zusammen. Die "Unehrlichkeit" war der Müllerstochter selbstverständlich. An das Leben auf einer Windmühle von Jugend an gewöhnt zu sein, war für die Windmüllerin ein großer Vorteil. Je selbstverständlicher ihr der Lärm des Mahlwerks, das ständige Zittern des ganzen Gebäudes, der Staub von Mehl und Kleie, das Kommen und Gehen der Mahlgäste war, umso besser. Eine Müllerswitwe aber konnte oft das Recht auf die Mühle mit in die Ehe bringen.

Der erste Liebert in Kobylin, Martin mit Vornamen, soll aus Jutroschin kommen, doch ist seine Taufe zwischen 1699 und 1717 dort nicht verzeichnet. Martin Liebert heiratet am 23. Oktober 1731 die Witwe des Mühlenmeisters "auf der Stadt Mühle" Heinrich Schurtzmann in Kobylin. Ob er damit auch die Mühle übernimmt, weiß ich nicht genau, aber er wird Bürger und bei der Geburt seiner Kinder, die er aber erst mit seiner zweiten Frau, Anna Rosina Strauß, bekommt, ist er "Müller auf der Stadt Mühle". Sehr wahrscheinlich hat er schon vorher als Geselle in Kobylin gearbeitet. Heinrich Schurtzmann ist am 30. Juni 1730 in Kobylin gestorben und hat aus erster Ehe einen Sohn Johann Heinrich, der 1727, noch zu Lebzeiten seines Vaters, die Müllerswitwe Dorothea Schade, geb Majuncke, geheiratet hat. Vermutlich hat er bei dieser Heirat die Mühle, auf der Müller Schade tätig war, übernommen.

Natürlich fanden die Windmüller nicht immer eine Windmüllerstochter zur Ehe. Unsere Vorfahrin Anna Rosina Strauß ist Seilerstochter, Maria Elisabeth Rothert ist Schusterstochter und Maria Helena Boltze ist Bäckerstochter. Ganz gewagt heiratete unser Vorfahr Johann Gottfried Liebert. Er nimmt 1774 Anna Rosina Daum zur Frau, die uneheliche Tochter von Dorothea Daum und einem namenlosen, vielleicht sogar polnischen Schäferknecht. Die Mutter Dorothea ist zwar inzwischen auf dem Vorwerk des Grundherrn mit einem Verwalter verheiratet, und Anna Rosina ist in geordneten Verhältnissen groß geworden. Trotzdem: der Müller und die Tochter des Schäferknechts werden allerhand Anlass zu Gerede gewesen sein, noch dazu, wo auch ihr erstes Kind 5 Wochen zu früh zur Welt kommt.

Wo die Schurtzmanns her sind, weiß ich nicht, die Straußens sollen aus Praußnitz stammen und die Boltzes aus Polnisch Hammer. Paten kommen aus Zduny und Bojanowo, auch nach Rawitz gibt es viele Verbindungen. Sie bilden eine bewegliche Gesellschaft, diese deutschen Lutheraner in Großpolen. Das Wandern ist des Müllers Lust. Aber in einer Sache sind sie stur: sie wollen evangelisch bleiben. Das bedingt eine gewisse Disziplin bei der Gattenwahl. Nach 5 Generationen, das sind rund hundert Jahre, sind alle evangelischen Kobyliner miteinander verwandt oder verschwägert.

Als Carl Christian Liebert 1822 stirbt, sind seine beiden überlebenden Söhne noch minderjährig. Ihre Mutter Christiana Charlotta Kammer, auch sie aus alter Müllerfamilie, ist schon 11 Jahre früher gestorben. Und obwohl die Stiefmutter der Jungen, Susanna Dorothea Pflegel, auch aus einer Kobyliner Müllerdynastie stammt, geht den Kindern die Mühle verloren. Die Stiefmutter heiratet einen fünf Jahre jüngeren Sattlermeister. Ist die große Zeit der Windmühlen schon vorbei? Hat der Patenonkel des älteren Bruders, der Bäcker Johann Benjamin Kuntz in Lissa, schon das Zischen der Dampfmühle im Ohr, als er den beiden Jungen rät, Bäcker zu werden? Jedenfalls wandern beide, der ältere Carl Christian und unser Vorfahr Daniel Benjamin, nach Lissa aus und erlernen das Bäckerhandwerk. In Lissa heiraten sie und leben dort. In Kobylin bleiben von Windmüller-Verwandten noch Carl Ephraim Pflegel, Jacob Ephraim Kammer und Carl Werse zurück. Die Schurtzmanns sind im Mannesstamm erloschen, die meisten Liebert-Töchter heiraten in andere Berufsgruppen ein. Sicher bestehen noch lange enge Beziehungen. Aber die Revolution von 1848 soll diese Beziehungen nachhaltig zerstören. Möglich ist, daß die Lissaer Großmutter unseres Großvaters Paul den Namen des Ortes Kobylin, den Ort, aus dem die Lieberts kamen, nie vor ihren Enkeln in den Mund nahm. Sie hatte ihre Gründe.

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